Peter Ertle
Allerhand aus Lallerland
Peter Härtling läßt seine Frau Farbe anrühren, verfaßt die Rede
"UnserLand. MeinerLand. KeinerLand.
AllerLand", frühstückt und kommt gewaltsam zu Tode. (Mit etlichen Originalzitaten des Autors)
Teil 1
Peter Härtling läßt seine Frau Farbe anrühren und verfaßt die
Rede "UnserLand. MeinerLand. KeinerLand. AllerLand".
Als Frau Härtling in der Kammer die Wandfarbe anrührte, die dem ehelichen Schlafzimmer in
dem von ihrem Mann so geliebten Eierschalen-Ocker-Farbton zu neuem Glanz verhelfen sollte, war ihr
Mann in seinem Arbeitszimmer mit der Abfassung der Rede "UnserLand. MeinerLand. KeinerLand.
AllerLand" beschäftigt.
Vieles mußte endlich einmal gesagt werden. Zum Beispiel: "MeinerLand, das AllerLand
sein könnte, schließt UnserLand insofern ein, als dieses UnserLand ohne AllerLand gar
nicht überdauern kann." So dicht hatte das vor ihm noch keiner gesagt, und so versuchte er
sich gleich noch einmal: "MeinerLand — das ist nicht das Land, von dem ich noch einmal reden
muß, um zu MeinerLand zu gelangen." Härtling hielt jäh inne und stutzte. Irgend
etwas war an diesem Satz danebengegangen, das fühlte er. Aber er wußte nicht, was. Als
seine Frau schließlich mit einem Eimer Wandfarbe ins Arbeitszimmer trat und nachfragte, ob sie
noch etwas Dottergelb beimischen sollte, war er bereits wieder mitten im Formulieren und antwortete
ihr: "In MeinerLand ruft der Zorn der Vergessenen und Verjagten uns ins Gedächtnis und ins
Gespräch."
Was ruft er ins Gedächtnis, erkundigte sich Frau Härtling, die nicht sofort etwas damit
anfangen konnte. Uns ruft er ins Gedächtnis, gab Herr Härtling zurück. Aber was ruft
er uns ins Gedächtnis, beharrte Frau Härtling. Uns ruft er uns ins Gedächtnis, beschied
Herr Härtling, verstehst Du nicht, "ruft der Zorn der Vergessenen und Verjagten uns uns ins
Gedächtnis".
Warum schreibst Du das dann nicht, wollte Frau Härtling nun partout wissen. Das kann man doch
nicht hinschreiben, entgegnete Herr Härtling und schalt sein Weib eine dumme Nuß. Nach
einer Weile des betretenen Schweigens wagte Frau Härtling einen zweiten, sehr vorsichtigen
Versuch: Vielleicht wolltest Du gar nicht schreiben "ruft der Zorn der Vergessenen und Verjagten
uns ins Gedächtnis", sondern "ruft der Zorn die Vergessenen und Verjagten uns ins
Gedächtnis", dann wäre ja alles klar. Härtling sah seine Frau längere Zeit
verstört an, dann sagte er: Es muß noch etwas Dotter rein. Frau Härtling nahm den
Eimer mit Wandfarbe und ging.
Es war nun schwer für Härtling, zur ursprünglichen Konzentration zurückzufinden.
Langsam tastete er sich voran: "Keinerland ist nach dem Aufruhr und der Einigung von Meinerland,
nach der verwundeten und suchenden Erinnerung in Meinerland die Aussicht, die wir uns machen und die
uns gemacht wird. " Das war ihm nun über die Maßen gelungen, und so drängte es
Herrn Härtling, alles auf einmal zu sagen: "Was ich unter Keinerland verstehe, ist
schnell und voller Angst mitgeteilt." Doch sein übervolles Herz türmte ihm so viele
widerstreitende Sätze gleichzeitig in den Kopf, daß nach einer halben Stunde des
reglosen Dasitzens nur noch einer übriggeblieben war: "Ich weiß nicht, wie
Keinerland aussieht."
Sollte das Härtlings letztes Wort gewesen sein?
Teil 2
Peter Härtling frühstückt und kommt gewaltsam zu Tode
Am nächsten Morgen saß Härtling verstimmt über seinem Frühstücksei,
zwar ohne ein Wort an seine Frau zu richten, aber keineswegs stumm. Seit Jahren schon hatte Frau
Härtling an den Geräuschen, die ihr Mann beim Kauen hervorbrachte, Anstoß genommen.
Wie er nun aber in dieser Selbstvergessenheit, als wäre nichts, als könne gar nichts sein,
selbst beim Schlürfen des unvermeidlichen und dazu noch fast flüssigen weichen Eis mit
den Zähnen klapperstorchte, mit den Kinnbacken knackte, wie das Kinnbackenknacken überging
in ein rechthaberisches Gemalme, wie das Gemalme ein Gewabbel seiner gesamten. Gesichtsmuskulatur in
Gang setzte, da schien Frau Härtling die Art wie er aß und wie er immer schon gegessen
hatte, auf einmal so unaushaltbar, daß sie aufstand und in die Kammer ging. Dort öffnete
sie den Deckel des Eimers, in dem sie am Vortage weiße Wandfarbe unter Zugabe von Dottergelb
zu der von ihrem Mann gewünschten eierschalenfarbenen Tönung angerührt hatte,
während er in seinem Arbeitszimmer mit der Abfassung seiner vielbeachteten Rede "Unserland.
Meinerland. Keinerland. Allerland." beschäftigt war, und außer einem kurzen "Es
muß noch etwas Dotter rein" keinen weiteren Rat zum Grad der Gelbabstufung gegeben hatte.
Frau Härtling nahm den Eimer, ging mit ihm ins Wohnzimmer zum Frühstückstisch
zurück, hob den Eimer und druckte ihn ruckartig und bis auf die Schultern über den Kopf
ihres Mannes. Er zappelte und wollte sich befreien. Sie aber legte sich mit dem ganzen Gewicht ihres
Oberkörpers über den Eimer und preßte mit den Händen seine Arme, mit denen er
sich vom Stuhl stoßen wollte, an seinen Leib. Noch bevor die zähe Farbe aus dem Eimer und
über seinen Körper hatte hinabkleckern konnte, regte er sich nicht mehr. Frau Härtling
zog ihm den Eimer vom Kopf und stellte ihn auf den Balkon.
Darauf verließ sie das Haus, besorgte sich bei einem Kohlenhändler einige leere
Säcke, in einem Heimwerkerbetrieb Spanplatten, die sie sich auf das Maß von 80 auf 210 cm
zuschneiden ließ. Wieder zu Hause, stopfte sie die Leiche ihres Mannes zunächst in die
Säcke, streute dann Kalk darüber, wickelte nun die Säcke in reißfeste
Plastikfolie und schraubte schließlich die Spanplatten drumherum. Die so entstandene Säule
stellte sie, nachdem sie für das offene Fußende mehrere Lagen Packpapier und eine dicke,
weiche Gummiplatte zurechtgerückt hatte, in die Balkonecke. Um womöglich auftretende
Geruchsbelästigungen gleich im Keime zu ersticken, legte sie auf das offene Fußende
rechts und links zwei Stückchen Seife und dazu von ihrer Silberfolie befreite Fichtennadeltabletten.
Dann ging sie in das Arbeitszimmer und räumte den Schreibtisch ihres verblichenen Gatten auf.
Versonnen las sie seine letzten beiden Notizen. Die vorletzte lautete: "Früher hielt
ich, mit Günter Grass, den Begriff Kulturnation für tauglich. Dieser Meinung bin ich
nicht mehr." Die letzte lautete: "Über Keinerland, das auch Allerland heißen
könnte, läßt sich nur mehr in Metaphern sprechen."
Sie legte die beiden Zettel zu den übrigen Manuskripten und schickte den Packen komplett
dem Radius-Verlag. Dann kehrte sie zum Frühstückstisch zurück, wo sie mit gutem
Appetit den Rest des längst erkalteten Eis aufaß.
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