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Wie Meister Su auf Kraniche kam
Von Ulrich Steiger
Im Herbst des Jahres zehn der Regierungsdevise Xining trat in Pengcheng
der Fluß über die Ufer, in meiner Schilfhütte stand das
Wasser auf halber Türhöhe. Nachdem im Frühling des darauffolgenden
Jahres das Hochwasser gefallen war, zog ich an einen Ort, der östlich
von meinem früheren Wohnort, und zwar am Fuße des Wolkendrachenberges
gelegen war. Es lebte dort auch ein Einsiedler namens Zhang Ji, und der
besaß ein zitronengelbes Finkenpaar. Jeden Morgen entließ er
die Finken ins Freie. Oft sah man sie tagsüber im nahen Dorf oder
auf den Feldern als zwei trällernde gelbe Punkte auf- und niederhüpfend
im Gezweig der Sträucher und Bäume. Abends aber kehrten sie immer
zum lockenden und pfeifenden Zhang zurück. Aus diesem Grund hieß
seine Einsiedelei Hof der heimkehrenden Zitronenfinken.
Nicht weit davon entfernt, etwas außerhalb des Dorfes lag der
Landsitz von Patron Ouyang, der mir gestattete, einige Schreibarbeiten
für ihn zu übernehmen. Es dauerte jedoch nicht lange, und diese
Tätigkeit wurde für mich zu einer so schweren Bürde, daß
ich bald in argen Rückstand geriet. Aus Sorge darum, daß ich
meinen Verpflichtungen auch tatsächlich nachkam, hatte mich daher
tagsüber ein Diener zu beaufsichtigen.
Ich hatte seit Wochen keinen Gast mehr empfangen können, als eines
Tages Su Dongpo seinen Besuch ankündigen ließ. Meinen Aufpasser,
den alten Onkel Ma, konnte ich mit einem Kürbis Reisschnaps rechtzeitig
ausschalten, so daß wir für drei, vier Stunden ungestört
blieben.
Su Dongpo - ermüdet von seinen Amtsgeschäften in der Präfektur
- suchte oft den Eremiten Zhang Ji auf, um einige Becher Wein mit ihm zu
leeren. Auch diesmal war er zuerst dort gewesen, und noch bei der Begrüßung
sagte er daher zu mir: "Kennt Ihr die Freuden des Einsiedlers? Selbst
der Kaiser würde mit ihm tauschen, wenn er könnte. Wie schade
ist es doch, daß der Mann vom Wolkendrachenberg sich nur Finken hält.
Wären Kraniche denn nicht viel angemessener?" - "Im Buch
der Lieder", wußte ich einzuwenden. "heißt es doch
aber: 'Wer behauptet denn, der Fink habe keine Nische zum Wohnen? Wie könnte
er mir sonst durch's Haus flattern?'" - "Weiberkram", zischte
Meister Su. "Im Buch der Wandlungen steht: 'Ein rufender Kranich im
Dunkeln, sein Junges findet immer zu ihm zurück.'" - "Und
im Buch der Lieder", rief ich schnell dazwischen, "finden sich
die Verse: 'Auch wenn der Kranich im neunten Moorloch ruft, hört man
in der Welt seine Stimme.'" Wieder etwas versöhnlicher lehrte
darauf der Meister: "Es ist die übernatürliche Fähigkeit
des Kranichs, sich trotz seiner Zurückgezogenheit in der Welt Gehör
zu verschaffen, die ihm den Ruf eingebracht hat, ein Heiliger zu sein.
Für den Einsiedler, der den Umgang mit ihm pflegt und sich an ihm
erfreut, wird aus ihm keinerlei Nachteil oder Schaden entstehen. Die Kranichsliebe
Herzog Yis von Wei hingegen führte in der Fühlings- und Herbstperiode
zum Niedergang seines Staates." - "Wäre ihm das denn mit
Finken auch passiert?" fragte ich aufrichtig interessiert. Aber unbewegt
und bestimmt fuhr der Meister fort: "Mit dem Wein verhält es
sich ähnlich. Der Herzog von Zhou und Herzog Wu von Wei waren der
Ansicht, daß von den Dingen, die die Welt in Wirrsal und Niedertracht
stürzen, keines dem Alkohol gleichkomme, wohingegen Weise wie Liu
Ling und Ruan Ji zu ihrem wahren Charakter erst durch den Wein gelangen,
und erst so wurden sie auch der Nachwelt überliefert. Oh weh! Obwohl
der Kaiser die Weite und Gelassenheit eines Finken... - nein: Kranichs
besitzt, ist es ihm doch nicht gestattet, ihn und den Wein zu lieben, da
das zum Untergang des Reiches führt." - "Von Kaiser Yao
wird doch aber berichtet, daß er in seinem Leben wenigstens einen
Becher Wein getrunken hat", wußte ich. Haushoch überlegen
erwiderte da der Meister: "Konfuzius sagt: 'Wenn Yao und Shun eine
gerechte Herrschaft ausüben konnten, wie wäre es ihnen möglich
gewesen, ohne die Gefahren des Alkohols zu kennen?' Was aber den Einsiedler
in den Bergwäldern angeht, so kann ihm der Wein, obwohl nichts mehr
die Welt in Wirrsal und Niedertracht stürzt, nichts anhaben. Um wieviel
weniger dann der Kranich? So betrachtet ist es bedauerlich, daß der
Eremit vom Wolkendrachenberg sich nur mit Finken abgibt."
Su Dongpo hatte sich schon seit einigen Stunden verabschiedet, ich saß
längst wieder an den Abschriften für Herrn Ouyang, während
Onkel Ma in einer Ecke meiner Hütte laut schnarchte. Da fiel mein
Blick auf das Bild an der Wand, das mir Zhang der Einsiedler vor Monaten
geschenkt hatte. Nun erst nahm ich wahr, daß der am Rande eines Reisfelds
abgebildete Knabe Kraniche und Finken beobachtete. In Parallelversen stand
darauf geschrieben:
"Wo Fink und Kranich das Feld sich friedlich teilen,
zieh'n Recht- und Menschlichkeit in jede Sippe ein."
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