In Wachsen-Viel-Ginster
Ein Beitrag zur VölkerverständigungDonnerstag, 27. Mai
Gleich bei der Einfahrt in dieses fremde Land fällt mir schon mal eins auf: Es ist öd und leer. Auf der ganzen Autobahn sind kaum Autos und nur vereinzelt gibt es ein paar Deutsche. Sonst: nichts. Dabei ist jedem von Kindesfüßen an sehr gut vertraut, daß eines der liebsten Hobbys des Franzosen darin besteht, mit einem wackligen und rostigen Kleinwagen quer durch sein geliebtes Land zu fahren und dabei den Verkehr zu gefährden. Trotzdem ist aber nach wie vor hier kaum jemand zu beobachten. Bald wird mir also klar: Der Franzose führt was im Schild. Nur was? Ich jedenfalls bin alarmiert.
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Obwohl nun die Kilometer nur so unter unserm Fahrzeug wegflutschen, kommen wir lange noch nicht am gewünschten Ziel an. Man kann von Frankreich ja nämlich sagen, was man will: Klein wenigstens ist es nicht. Mein Versuch, diese unbestreitbare Tatsache als Analogon zur Biergärung aufgrund von Pilzen zu begreifen, muß nach kurzer Überlegung allerdings für mißglückt angesehen und daher zu den Akten gegeben werden, weil der Franzose naturgemäß ja dem Wein mehr abgewinnen kann und die Biergärung sowieso eigentlich mehr für die Bläschen und den Alkohol sorgt und nicht so sehr für das Volumen zuständig ist. Schade. Dafür gibt es in der Gegend um Lyon zahlreiche stark rauchende Schlote, was meinen Verdacht gegen den Franzmann abermals bestärkt. Ein kleiner Happen zwischendurch besänftigt mich jedoch schnell wieder.
Bald danach entdecke ich aber ein Atomkraftwerk an der Straße und mit der guten Laune und dem Wohlwollen ist es endgültig vorbei. So haben wir nicht gewettet!
Auf der Autobahn noch immer nichts zu sehen! Wo verstecken die sich nur?
Bei Einbruch des Tages folgt dann schnell das böse Erwachen: Ginster! Alles ist voll unzähliger buschiger Gebilde aus gelbem Ginster! Das ist doch nicht normal.
Erschöpft sinke ich wenig später in einen unruhigen Schlaf hinab, schrecke aber alle paar Minuten nervös wieder herauf. Man weiß ja nie, ob sich nicht etwas verändert, während man gerade nicht hinsieht – und das Prinzip Hoffnung, das dem Menschen bei der Geburt ins Stammbuch geschrieben wird, sorgt dafür, daß man immer glaubt, etwas werde sich verbessern. Das gelbe Gewächs am Straßenrand wird aber eher noch mehr, je weiter wir uns von der Heimat entfernen und ich mache mir erstmals ernsthafte Sorgen.
Ein Halt bei McDonalds dann bringt wiederum wenig Neues, denn auch hier: Alles leer und wie ausgestorben. Holzauge, sei wachsam!
Freitag, 28. MaiNoch immer gibt es an allen Seiten der Fahrbahn bloß Ginster. Das viele Gelb schläfert leider ungemein ein – oder ist es die lange Fahrt? Wie leicht gerät man in einer solchen Situation in einen unruhigen Schlaf und ist dann ein gerngesehenes Opfer für Angriffe jeder Art. Ich bin aber ohnehin gewarnt und lasse mich nur schwer unterbekommen. Überdies will ich sehen, was es noch so alles gibt.
Das Auto brummt ganz proper daher und funktioniert tadellos: schön. Eine Nachfrage beim Fahrer ergibt, daß es sich um ein deutsches Fabrikat handelt, und man sieht so wieder sehr gut, wo es langgeht in Europa. Leider kommt es aber später noch zum Debakel, als der Versuch, einen Laster zu überholen, an der Blockade der zweiten Fahrspur durch einen Kleinwagen der französischen Firma Citroen vereitelt wird und wir einige Meter zurückfallen. Mir scheint hier ein Komplott vorzuliegen und ich nehme also zunächst die Kennzeichen der beiden gegnerischen Fahrzeuge in ein Notizbuch auf. Die Quersummen der beiden unterscheiden sich nur um drei, wie sich schon bald herausstellt. Na bitte!
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Kurz vor Nimes wird die Autobahn plötzlich sehr schmal und der Ginster rückt bedrohlich nahe. An allen Seiten der Bahn hat der Franzose Blitzlichter aufgestellt, um uns zu verblenden und wir müssen auch kurz die Augen zusammenkneifen, gewöhnen uns aber schon bald an die Unbill. Insgesamt hat der Franz sich also verrechnet! Ich übrigens auch, die Quersummen waren nämlich um Vier verschieden. Ich beginne an mir zu zweifeln und werfe den Zettel mit den Autonummern enttäuscht aus dem Fenster des Wagens auf die leere Straße hinaus. Obwohl ich danach aufmerksam beobachte und die Augen offenhalte (trotz der Blitzlichter!), kann ich niemanden das Papier auflesen sehen. Was hat das nun wieder zu bedeuten?
Der Versuch eines Lastwagenfahrers, uns auf die linke Spur zu drängen, schlägt in allerletzter Sekunde fehl, als er nämlich die Ausfahrt nach Nimes nimmt. Sicherheitshalber schreibe ich trotzdem sein Kennzeichen auf und notiere dazu seine Ladung: Brathähnchen. Aha. Obendrein habe ich mir noch sein Gesicht gemerkt. Erschöpft, aber beruhigt schlafe ich endlich ein.
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Das nächste Erwachen findet statt, als wir die Autobahn verlassen, die ja im übrigen selbst rätselhaft verlassen gewesen war. Bis zu diesem Moment hat der Franzos über 200 Frank Maut von uns abkassiert, das ist, umgerechnet in Demark, eine ganze Stange Geld! Davon führt der Lump dann wieder Krieg in Vietnam oder China und der deutsche Michel muß durch seinen Widerstand dagegen die Humanität wieder aufbügeln. Das kommt eben heraus beim Militär.
Auf der ganzen Strecke ist übrigens komischerweise kaum ein Panzer oder Truppentransport zu sehen, woran aber, wie ich bald errate, nur der Geheimdienst schuld ist, der das alles in Wald und Flur verbirgt. Mit ein wenig gutem Willen wird das jeder Leser leicht einsehen.
Überhaupt ist um unser ganzes Auto herum eine merkwürdige Stille ausgebreitet, die fast geplant sein könnte, um uns in Sicherheit zu wiegen. Das ganze Land atmet sehr flach und gleichmäßig und tut ganz unbewohnt und unschuldig. Jedoch sieht man manchmal zwischen Ginster und Blitzlichtern ein Häuschen durchschimmern und weiß es somit besser.
Die Sonne ist unterdessen auch schon aufgestiegen, sieht aber nicht viel anders aus als das Exemplar in beispielsweise Tübingen daheim. Erst zusammen mit dem Ginster merkt man überhaupt einen Unterschied. Rätsel Leben!
Man merkt, daß wir allmählich aus der von Deutschland überwachten Zone hinausfahren, denn überall am Straßenrand steht der Franz und pißt im Stehn auf den Ginster hin. Bei uns gibts das nicht, da wird immer sauber in die Schüssel gestrullt und nirgendwo steht irgendwer am Straßenrand und macht auf den Ginster. Aber im Ausland ist es eben verschieden.
Frauen sind aber dabei offenbar nicht zugelassen, denn man kann immer nur Männer so stehen sehen. Oder aber die Frauen sind ganz woanders und gehen Verrichtungen nach. Was hat der Franz mit seiner Frau am Hut? Wir wollen diese Frage nicht vergessen!
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Schließlich fahren wir endlich in einen Ort namens Bedarieux hinein und allerlei verwinkelte Gäßchen und Straßen rauf und wieder runter, bis wir irgendwo am Straßenrand den Motor abstellen und das Fahrzeug öffnen. Die ganze Fuhre deutscher Bürger hopst aus den Autos heraus und läuft sofort laut schnatternd und zitternd in der Landschaft herum, denn die versprochene südfranzösische Hitze bleibt vorerst weg. Das hatte ich allerdings schon fast erwartet.
Im Nachbarhaus zum Haus der Bekannten, die wir hier treffen wollen, und die über den Schlüssel zu dem Haus in Rongas verfügt, das unser eigentliches Ziel ist, sitzt ein kleiner Hund und hechelt sich komischerweise die Lunge aus dem Leib – und das, obwohl es gar nicht heiß ist, wie ja schon ausgeführt wurde. Aber in Frankreich sind eben sogar die Hunde mitunter ein wenig wunderlich. Das Tier ist nun aber, allen Anomalien und Fremdländigkeiten zum Trotz, ganz niedlich und es regt sich verschiedentlich der Wunsch, es zu kosen. Leider ist es aber angeseilt, weswegen das Vorhaben aufgegeben werden muß. Zuletzt erscheint ein Einheimischer und sammelt das Tier ein. Er wird schon wissen, warum.
Eine Weile später taucht endlich die Bekannte auf, hupend und kleinwagenüberdiestraßeheizend wie nicht gescheit und begrüßt uns in angenehmem Deutsch. Überall sonst dagegen versteht man hier ja nur Französisch, das haben wir schon bemerkt. Furchtbar!
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Die weitere Fahrt geht dann weg von jeder Zivilisation, die es hier ja ohnehin kaum gibt, tief hinein ins französische Hinterland. Eine Kurve nach der anderen wird genommen und glücklich umschifft, obwohl der Franz im Gegenverkehr fährt wie eine gesengte Sau und dadurch unser Leben nicht unerheblich aufs Spiel setzt. Das scheint ihm aber ganz egal zu sein. Nun, man weiß so immerhin, woran man ist. "Beim flüchtigen Blick aus dem Fenster bemerke ich erstaunt, daß die Fensterläden des Hauses gegenüber, legte man sie nebeneinander, anstatt ein Fenster dazwischen zuzulassen, das elektrische Schaltsymbol einer Halbleiterdiode ergäben. Sofort ist natürlich der nachrichtendienstliche Zusammenhang hergestellt und ich bin hellwach."
Immer weiter hinauf an den Füßen der Berge entlang geht die Fahrt und mein irritierter Blick sucht immer wieder das Ziel auf Wegweisertafeln zu greifen. Das ist aber vertane Zeit, weil überall sowieso nur Paris aufgedruckt steht und nirgendwo Rongas, wo wir hinwollen.
Die Berge links und rechts von der Straße sind natürlich mit Ginster bewachsen und rücken bedrohlich immer näher und näher an unser Fahrzeug heran, so daß man sich sehnlich wünscht, endlich anzukommen. Aber nichts da!
Dann plötzlich aber doch: "Rongas, 0.7" weist ein Schild nach rechts, gleich drauf informiert uns ein buntgemaltes "T", daß jetzt eine Sackgasse kommt, die 700 Meter lang ist und dann endet. Diese Sackgasse ist, der findige Leser weiß vermutlich schon ganz gut Bescheid, Rongas. Bei näherem Hinsehen hat das Dorf dann etwa 50 Einwohner und ist so weit vom Schuß, daß man’s nichtmal knallen hört. Aber Kirche, Briefkasten und Mülltonne sind vorhanden, und das ist doch auch ganz schön. Und natürlich der Ginster.
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Aus dem Wagen heraus wirft der Deutsche sich dann recht flott auf den französischen Boden und dringt munter in das leerstehende Haus ein, das uns die folgenden Tage als Unterschlupf gegen die Witterung dienen soll. Die Treppen und Wände sind innen alle verbogen und schief und überall viel zu niederig. Deshalb schlage ich mir auch prompt ein paarmal den Hirnkasten an, was mir gleich alle Gedanken völlig durcheinanderschmeißt. Ein Anschlag auf meine geistige Gesundheit selbst hier in sogenannter "ländlicher Idylle"? Wer weiß.
Beim flüchtigen Blick aus dem Fenster bemerke ich erstaunt, daß die Fensterläden des Hauses gegenüber, legte man sie nebeneinander, anstatt ein Fenster dazwischen zuzulassen, das elektrische Schaltsymbol einer Halbleiterdiode ergäben. Sofort ist natürlich der nachrichtendienstliche Zusammenhang hergestellt und ich bin hellwach. Was will der Mann mir damit sagen? Überwachung? Geheimdienst? Mein Blick ist somit erneut geschärft für feindliche Bewegungen.
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Die erste Handlung in der fremden Umgebung, vergleichbar dem Gebietmarkieren der jungen Hundes, ist ein Einkauf im örtlichen Supermarkt. Triumph des Spätkapitalismus also auch im ländlichen Frankreich, es war zu erwarten gewesen, wo doch das schwache Volk der Franzosen naturgemäß den Verlockungen eines Konsumtempels ungleich weniger widersteht als der selbst schon anfällige Deutsche. Aber immerhin ist das Einkaufszentrum eine halbe Autostunde (deutscher Zeitrechung) von Rongas entfernt und bedarf also einiger Bewegungen durch ginstergesäumte Straßenschluchten.
Im Innern des sehr unansehnlichen Gebäudes dann tauschen zahlreich vorhandene übergewichtige und schmurgelgesichtige Franzosen in kurzen Hosen ihr dünnes, sozusagen auf Butterbrotpapier gedrucktes – obwohl es natürlich nicht wirklich auf Butterbrotpapier gedruckt ist, so dumm ist nichtmal der Franzos – auf also jedenfalls recht dünnes – gegen Butterbrotpapier spräche ja übrigens schon allein der Geräuschpegel, den es beim Geknittertwerden entfaltet – und fast durchsichtiges Papier gedrucktes Geld gegen allerlei unbrauchbaren Schnickschnack wie "Das Schweigen der Lämmer" auf französisch – die deutsche Ausgabe genügt nämlich vollständig, ja ist fast schon selbst zuviel des Guten und obendrein viel besser zu verstehen als dieses welsche Trara – oder auch gegen aufblasbare Badeinseln, ein vollkommener Quatsch, da der Atlantik viele Kilometer weit fort liegt und man im Mittelmeer auch ohne Plastikkram ganz gut baden kann. Aber das ist dem Franzosen jeweils alles völlig gleich, wenn er nur sein albernes Geld losbekommen kann. Ein lustiges, ein frohes Völkchen!
Mir ist übrigens, dieses Wort gilt für meine kritischen Leser, völlig klar, daß der vorangegangene Absatz sich einer zweifellos konfusen Sprachführung befleißigt. Dies aber nicht aus einer Bosheit gegen den hilflosen Leser heraus, sondern um die ihm innewohnende hochkritische Aussage vor den Augen des Franzosen zu verbergen, der nämlich unser gutes Deutsch nie weitgehend genug beherrschen gelernt hat, um solch filigranen Sprachkunstwerken zu folgen.
Zu den üblen Dingen in den Supermärkten zählt obendrein auch das Davontragen mit bunten Flüssigkeiten gefüllter Plastikflaschen, mit denen der Franzose dann werweißwas macht. Jedenfalls gibt es eine verdächtige Menge dieser Flaschen in französischen Regalen – und wenn man einschließt, daß der Inhalt sich keinesfalls zum Trinken eignet (dies hat der Autor in Selbstversuchen zweifelsfrei nachgewiesen), wird die Sache vollends rätselhaft. Es scheint hier ein großes Geheimnis verborgen. Ich werde weiter ermitteln.
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Nach der Rückkehr zockt man noch ein ums andere Kartenspiel über den Tisch. Es wird ein Skat gegeben und somit gute deutsche Kultur auch in die französische Bauernlandschaft verbracht.
Schließlich bricht die Nacht herein. Die Oma verriegelt alle Türen, die sie finden kann, so oft es nur geht ("Damit keiner hereinsteigt heut nacht"), worauf man sich beruhigt zu Bett verfügt. Beim Gang die Treppen hinauf – mein Zimmer befindet sich auf höherem Niveau – stoße ich mir abermals schmerzhaft das Haupt.
Das Abendessen bestand aus Spaghetti "Miracoli".
Samstag, 29. MaiFrühmorgens zwingt mich hoher Blasendruck die enge Treppe hinunter auf die Toilette. Das ist zwar ärgerlich, aber letztlich liegt wohl niemand gerne im eigenen Urin, denke ich mir.
Noch auf der Schüssel überlege ich ratlos, wohin die Flüssigkeit sich wohl nach dem Spülvorgang verlaufen wird, verliere das Problem aber auf dem Rückweg zu meinem Bett fast völlig aus den Augen. Beim Versuch, durch Kopfeinziehen schmerzhaften Anstoß zu vermeiden, schlage ich mir das Schienbein an einer Treppenkante. Der Franzose hat an alles gedacht.
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Zum Frühstück gibt es Spaghetti "Miracoli" mit leckerer Tomatensoße. Es handelt sich dabei um die Reste des Vortages, das für diejenigen unter den Lesern, die es nicht ohnedies vermutet haben. Wir futtern alle, was geht.
Bei der darauffolgenden Abfahrt bemerke ich eine Bewegung hinter den Gardinen des Hauses gegenüber. Rasch überprüfe ich nochmals alle Schlösser an unseren Türen, finde aber ein jedes tiptop. Vorsicht ist jedoch, gerade auch in Frankreich, besser als Nachsicht dem gestohlenen Gut gegenüber! Außerdem kommt man ja nicht gerne vom fröhlichen Ausflug wieder und findet die ganze Wohnung vollgeschissen. Man hört ja allerhand vom Vandalismus am fremden Eigentum, im Ausland zumal.
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Unser erstes Ziel führt uns, nach dem Einsammeln der Bekannten nebst ihrer Verladung in den Kraftwagen, gleich tüchtig unters Licht. Im Berg hat der göttliche Zimmermann nämlich ein beachtliches Loch gelassen, in das wir dann aus purer Neugier auch hineingehen wollen. Die Maut ist rasch bezahlt – wenn auch mit einem Knirschen zwischen den Zähnen – und eigentlich könnte es nun auch schon losgehen mit dem Ausflug. Leider müssen wir aber, bei 920 Grad Celsius im Schatten, abwarten bis unser Führer kommt, der dann aber sowieso bloß Französisch kann und somit nicht verstanden wird. Die wichtigsten Informationen werden immerhin von der Bekannten in mein geliebtes Deutsch übertragen, so daß wir erfahren, daß der Rundgang durch Frankreichs Innereien einige Kilometer lang und 17 Grad Celsius warm sein wird. "Die Grotte selbst ist wie erwartet von vorn bis hinten vollgehängt mit Steinen, so daß an manchen Stellen fast kein Durchkommen ist. Anderswo wiederum ist elend viel Platz, den wir mit unseren paar Mann nicht annähernd nutzen können. Alles ist furchtbar verdreckt und verstaubt und zeigt so nur einmal mehr, daß der Franzose ihm Anvertrautes nicht zu bewahren weiß."
Ich habe soeben das Diktiergerät mit der authentischen Information des Tages nochmals abgehört. Es muß heißen: 29 Grad Celsius. 920 ist zuviel. Bitte wollen Sie das im Text ändern. Dankeschön.
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Den ganzen Weg unter dem Berg hindurch ist es um die drei Französisch sprechenden aus unserer kleinen Gesellschaft ein rechtes Geschnatter und Geschnabel. Permanent werden die sonderbarsten Laute ausgetauscht und man versteht sich offenbar ganz prächtig. Im Stillen lasse ich das Diktaphon mitlaufen und beschließe eine sorgfältige Auswertung. Ein leichtes Opfer bin ich nämlich nicht, meine Herren!
Die Grotte selbst ist wie erwartet von vorn bis hinten vollgehängt mit Steinen, so daß an manchen Stellen fast kein Durchkommen ist. Anderswo wiederum ist elend viel Platz, den wir mit unseren paar Mann nicht annähernd nutzen können. Alles ist furchtbar verdreckt und verstaubt und zeigt so nur einmal mehr, daß der Franzose ihm Anvertrautes nicht zu bewahren weiß. Stellenweise ist ja noch sehr schön zu sehen, wie das alle früher ausgesehen hat, aber jetzt? Sogar die schönen Tropfsteine sind total verrostet! Daß es soweit kommen mußte!
Kurz vor dem Ausgang bekomme ich dann doch noch die Decke des Ganges gegen den Schädel geschlagen. Damit ist klar: Es ist ein Komplott gegen meine Intelligenz im Schwange. Perfide Wühlarbeit noch in der sonnigsten Freizeit. Schöne neue Welt!
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Den Nachmittag dann verlebt man im betulichen kleinen Dorf Sankt Guilhem, das im Wesentlichen aus einer Kirche und zahlreichen Postkartenläden besteht, in denen man außer Postkarten auch noch rosarote Plastikspiralen und zwanzig Jahre alte, vergilbte Bücher aus Marseille oder Grenoble kaufen kann. Die Spiralen erfüllen wahrscheinlich keinen vernünftigen Zweck und sind bloß zum Einschläfern der deutschen Wachsamkeit gedacht, werden jedoch von der Schwester, nachdem sie zu Forschungszwecken eine erstanden hat, recht bald zum Treppensteigen hin dressiert. Das ist recht lustig und würde den Franzosen gehörig überraschen, wenn er nur davon wüßte. Aber von uns erfährt keiner was.
Die Kirche ist sehr billig gemacht und sieht wegen der fehlenden bunten Fenster und goldenen Kreuze aus, als ob der Japs sie in Taiwan hätte bauen lassen. Dagegen spricht aber, daß die Bedienungsanleitung für die eingebaute Spardose in verständlichem Deutsch hingeschrieben ist, das der Japaner in solchen Fällen bekanntlich nicht beherrscht. Trotzdem werfe ich aber keine Münze hinein, weil ich alle meine Kräfte für den kommenden Konflikt aufsammeln will und nichts verschwenden. So habe ich die subversive Absicht der feindlichen Taktiker schon im Vorfeld erkannt und durch eigene Gewitztheit zu neutralisieren vermocht. Wer kann da mithalten?
Anschließend geht unsere kleine Gesellschaft dann durch das übliche Chaos aus kleinen Gassen und schiefen Häusern aus dem Ort wieder hinaus. Nur ein echter Esel kann so etwas romantisch nennen, wo doch jeder vernünftige Mensch gleich sieht, daß all die Verwinkelei und Windschiefheit bloß von der Dummheit – Romantiker sagen: dem schlichten Gemüt – des französischen Bauern herrührt. Wenn der Franzos New York hätte bauen müssen, kann man sich ja vorstellen, was das geworden wäre. Ein Glück, daß Kolumbus die Amerikaner frühzeitig genug entdeckt hat, so ist uns wenigstens dieser Schandfleck erspart geblieben.
Die anschließende Rückreise nach Rongas bringt wenig neues. Verschiedentlich steht ein wenig abseits der Franzose im Ginster und verrichtet sein Geschäft, und überhaupt: Ginster. Wiedermal alles voll Ginster. Man möchte fast von der gelben Plage sprechen, bloß meint das ja den Chineser und ist also hier ungeeignet. Ansonsten sieht eine Kurve hier aus wie eine beliebige andere und die Ortschaften sind ohnehin alle ganz identisch. Wenn wir nicht das umfangreiche Kartenmaterial von Kümmerly & Frey mitgebracht hätten, wären wir bald in Paris gelandet. Scheint´s ist das nämlich der einzige Ort, von dem der Franzmann treffend weiß, wo er sich befindet. Deshalb druckt er es dann stolz auf alle Schilder drauf, was aber ein gewaltiger Blödsinn ist! Aber man sagt ja auch, alle Wege führen nach Paris und das wird den Franzosen eben verführt haben, es auch in der Tat umzusetzen. Aber als Deutscher ist man hier tolerant und kann das gerne wegstecken. Der Friede bleibt damit gewahrt.
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Wieder zurück mache ich mich sofort daran, das mitgebrachte Bandmaterial aus der Grotte auszuwerten. Leider ist die Akustik nicht sehr gut ausgefallen und ich verstehe kaum etwas. Immer wieder taucht aber, vom Führer laut dahergebrüllt, das Wort "souterrain" auf und ich erschließe mir kraft des Denkens, daß das wohl Tropfsteinhöhle heißen muß. Diese Erkenntnis wird sofort ins Notizbuch eingegeben, damit die Nachwelt sich daran erfreut!
Von den Geheimgesprächen, die da ja zweifellos auf Französisch geführt worden sind, ist leider wirklich rein gar nichts zu verstehen, außer einem ganz matschigen faulen Gemurmel im Hintergrund. Das ist aber sowieso schon so, wie das Französische klingt und deswegen denke ich, daß viel nicht fehlen kann, bis man das Gesagte doch noch versteht und schreite also zur Tat. Dem Kassettenrecorder wird ein gehöriger Tritt verpaßt und so für Abhilfe gesorgt.
Leider dankt das dumme Ding mir die Gewaltanwendung damit, daß es nun vollständig zu eiern anfängt und das kostbare Magnetband auffrißt. Bevor ich diesem Treiben Einhalt gebieten kann, ist schon ein großer Teil der wertvollen Daten für jede Forschung verloren und vernichtet.
In der folgenden Enttäuschung erhalte ich Gelegenheit, einen Gedanken zu fassen und bald errate ich, daß der Ausfall des Kassettengerätes von einer Schwankung der Spannung im elektrischen Kreislauf Frankreichs herrühren muß, die von kundiger Hand herbeigeführt worden war. Meine Gegner sind mächtiger als ich dachte! Siedendheiß fällt mir nun auch das Diodensymbol auf den Fensterläden wieder ein und ich schelte mich einen Narren, diese Spur nicht schon viel früher verfolgt zu haben. Es irrt der Mensch, solang er lebt, aber das hätte nun wirklich nicht sein brauchen!
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Der Rest des Abends wird abermals dem Kartenspiel dargebracht, wiederum ist es ein Skat, den man spielt und die Karten klatschen nur so eins ums andere auf den Tisch. Dabei geht auch alles ganz glatt, bis die Schwester ordentlich Stunk macht wg. der Kassettenmaschine. Das war nämlich die ihre, behauptet sie und fordert Genugtuung. Schade nur, daß sie ihre Besitzansprüche nicht durch eine saubere Urkunde beweisen kann, der man allenthalben freundlichen Beifall gezollt hätte. So aber...
Meiner glaubhaft vorgetragenen Erklärung, das Gerät nicht berührt zu haben und dem Versuch, den Schaden durch theoretische Konstrukte und Argumentation auf die erwähnten Schwankungen der Netzspannung zurückzudeuten, wird weitgehend entsprochen, wenn auch die Schwester gewichtige Zweifel zurückbehält. Da kann ihr aber niemand helfen.
Gegen Ende des Tages wird noch ein wenig dem Geschrei der französischen Schwalbe Aufmerksamkeit geschenkt, ehe die Müdigkeit dann das ihre fordert. Jedem schließlich das Seine. Die französische Schwalbe ist ja, entgegen der oft vertretenen Meinung widersprechender Denker, durchaus kein langweiliges oder unnützes Geschöpf. Indem sie beispielsweise nachts laut kreischend und pfeifend um erleuchtete Laternen herumsaust, vermag sie den Menschen ähnlich auf die Tageszeiten aufmerksam zu machen wie etwa der Hahn durch sein Krähen. Freilich stutzt man Hähnen ganz gerne die Flügel weg, weswegen die Parallele nicht ganz geglückt sein kann – sei?s drum.
Sonntag, 30. MaiDer Tag beginnt mit einer Überraschung: Am Himmel oben hat sich eine einzelne Wolke katastrophal verfahren und ist frontal gegen die Spitze eines Berges gerauscht, wo sie nun festhängt. All die anderen Wolken nehmen davon aber keine Notiz, sondern sausen einfach vorbei. Kann es eine schönere Metapher für den Seelenzustand des Franzosen geben? Und wenn man obendrein berücksichtigt, daß das Bild der Mutter Natur abgeschaut wurde, wird man ganz selig vor ruhigem Glück.
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Gleich nach dem Frühstück, breakfast sagt der Franzose dazu, wenn er in England ist zumindest, da habe ich es wenigstens mal einen Belgier so sagen gehört, und es heißt ja, die Belgier sprächen dieselbe Sprache wie die Franzen, nach dem breakfast also singen die Mutter und die Schwester gemeinsam das Kolumbus-Lied. Der Kassettenspieler ist ja leider futsch, da kann man das Gesinge schon akzeptieren, und wenn die Töne ordentlich auf den Linien sitzen, hört man es sogar ganz gern.
Sowieso ist das Kolumbuslied ja recht gut gemacht, denn wie da in kurzen Worten die ganze Geschichte Amerikas von "Gloria" über "Viktoria" bis hin zu "Bumbum" abgerissen und verarbeitet wird, das ist schon ganz große Kunst. Da kann der Bruder Jakob sowenig mittun wie die Brücke in Avignon. Es geht eben nichts über ein gutes deutsches Stück Musik! Von Beethoven brauchen wir hier ja gar nicht reden.
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Als nächsten Höhepunkt erzählt der Vater vom nächtlichen Besuch des Abtrittes, der ihn in nähere Bekanntschaft mit Stimmen und Flugeigenschaften verschiedener Angehöriger der Gattung der Chiroptera, das heißt Fledermäuse, versetzte, die sich kreisförmig um eine Straßenlaterne herumbewegt haben sollen. Als die Schwester sich daraufhin zum Fenster wirft, um diese Information auf ihren Wahrheitsgehalt hin einem Test zu unterziehen, wird sie herb enttäuscht, weil da natürlich alles vollständig fledermausfrei im Licht liegt. Meine rasch zusammengetragene Erklärung, Fledermäuse seien ja bekanntlich mit den Augen blind wie Maulwürfe und daher Tags nicht zu sehen, weil am Tage ja die Sonne scheine und somit jeder, also auch unser Freund, die Fledermaus, freie Sicht habe und mit "blind" nicht eben richtig beschrieben sei, wird lachend verworfen und man kommt auf andere Themen zurück. Die Fledermaus ist vergessen. Die Fledermaus ist ein ganz erstaunliches Geschöpf. Den Tag verbringt sie verborgen in einer dazu geeigneten Höhle, während sie des Nachts zum Vorschein kommt und unhörbare Laute, sogenannten "Ultraschall", äußert, der dann von allen möglichen Dingen abgewehrt wird und ihr ins Gesicht zurückschlägt, wo sie ihn mit den großen Ohren wieder zu sich nimmt. Ein echtes Wunder der Natur!
Im weiteren Verlauf des Tages kommt dann die Bekannte vorbeigefahren und setzt sich zu uns an den Tisch. Vor dem Fenster draußen bewegt sich vorerst nichts und mitten hinein in das angenehme Schweigen, das uns beschließt, erzählt die Bekannte, das Luder, mit ganzer Absicht vom Tod einiger Leute in Solingen. Das will ich aber in meinem bislang so ruhigen und friedlichen Tagebuch nicht gerne schreiben müssen und sowieso handelt es sich dabei ja nur um Pariser Greuelpropaganda von schlimmstem Ausmaß. Um aber zu zeigen, daß wir nicht die Ausnahme sind, sondern das Bild von Deutschland im Ausland gut sein soll, zünden wir zwei Dutzend Kerzen an und verteilen sie an strategisch günstigen Punkten im Haus. Leider muß ich für diese menschliche Wärme mit einem Unfall im Treppenschacht büßen, als mir wiederum die Decke den Schädel verwundet! Langsam wird es mir zu bunt!
Die Lichterkette ist aber trotzdem sehr schön und glüht und flackert wie ein richtiges Feuer. Leider sind gar keine Türken da, sonst würde man die Freunde des deutschen Volkes natürlich liebend gerne zu einem Kartenspiel bitten. So spielt der Deutsche eben unter sich. Auch ganz schön.
Montag, 31. MaiDer Franzose ist ja, um es mal so zu sagen, von Geburt an des Deutschen nicht mächtig. Aus Verlegenheit redet er dann sein sonderbares Französisch daher, aber das ist nur eine Notlösung und klingt dann leider auch so. Man muß aber für diese peinliche Situation des Franzosen großes Verständnis aufbringen, weil er nunmal nichts dafür kann. Andererseits allerdings wurde freilich im Verlauf der Geschichte dieses Landes schon mehrmals versäumt, dieses Unglück der falschen Geburt zu korrigieren und man sollte also nicht zu weich und nachsichtig sein.
Jedenfalls ist Frankreich aufgrund all dessen ein Land ohne Deutsch, und da ich ein Deutsch ohne Frankreich bin, treffen wir zwei also weitgehend sprachlos aufeinander. Das ist aber auch ganz schön, von dem ewigen Geplapper gibt es ja doch immer wieder nur den Krieg.
Aber damit soll es jetzt genug sein mit Philosophie, zurück zum Leben, das doch ganz allein wahr und echt mit beiden Beinen auf Mutter Erdes breiten Schultern ruht.
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Der Morgen des Tages wird in großer Hektik über die Runden gebracht, denn schließlich möchte man ja noch zum Strand gelangen, ehe der Sonne Kraft den Weg alles Lebenden geht und muß sich also sputen. Wie erwartet findet sich den ganzen Weg bis zum Meer hinab Ginster in stattlicher Menge und im Kraftfahrzeug wird es ordentlich heiß – fast wie in einer Bratpfanne, bei der ein Deckel auf dem Rand sitzt. Der Unterschied ist hier nur, das die Pfanne von unten mit Hitze beschickt wird, während die Sonne bekanntlich vom Himmel herab brennt.
Aussehen des Ginsters: große, weitverzweigte Büsche ebenso wie punktueller Kleinwuchs. Dem Ginster eigentümlich ist eine intensiv gelbe Färbung der zahlreich an den grünen Zweigen verteilten Blütenstände. Der Duft des Ginsters ist dem Autor unbekannt, es ist aber vom Vorhandensein eines solchen mit hoher Wahrscheinlichkeit auszugehen. Schluß des Vorhergehenden.
Träge klebe ich die ganze Strecke lang im Automobil am Beifahrersitz fest und bin von der ständigen Hitze ganz geschafft. Das ist aber nichts als ein Vorbote des Kommenden, das seinen Schatten bereits böse vorausschleudert. Später hatte es dann gar keinen Schatten mehr, aber soweit denkt man, zumal beim Autofahren, natürlich nicht, sonst hätten wir vielleicht gleich kehrtgemacht. Aber nun kam es, wie es kam.
Auf einmal ein Verdacht: Fieberhaft beginne ich mit einigen Forschungen, in deren Verlauf ich unter anderem meinen Finger mit Speichelflüssigkeit befeuchte, um Windrichtung und -farbe zu ermitteln. Die Quelle der Hitze kann allerdings vorerst dennoch nicht ausgemacht werden, es wird sich dabei wohl doch lediglich um die Sonne handeln. Ein französischer Anschlag auf unsere Geisteskraft läßt sich leider nicht nachweisen.
Erneuter Verdacht kommt jedoch auf, als ich ein merkwürdiges Schild am Rand der Straße in Betracht ziehe. Im roten Kreis ist da ein Auto aufgemalt, dem das Dach explodiert, was nach meinem Dafürhalten keinen ordentlichen Sinn zusammengibt, wenn nicht die Überlegung eines militärischen Angriffs auf unser Fahrzeug mitgerechnet wird. Dann aber sieht es gar nicht gut für uns aus!
Will der Franzose so an uns die einst erlittene Schmach rächen? Das würde ihm sicherlich ganz ähnlich sehen.
Wachsam halte ich nach gepanzertem Kriegsfahrzeug Ausschau, kann aber nur wenig entdecken. Vielleicht hätte ich doch zur Bundeswehr gesollt, um die fünf Sinne für solche Zwecke ordentlich scharfmachen zu lassen, dann würde ich mir jetzt jedenfalls nicht wie auf dem Präsentiertablett plaziert erscheinen. Aber mein ungeschultes Auge sieht nichts und ich erscheine mir.
Ganz ohne Frucht freilich bleibt meine Beobachterei auch nicht, erspähe ich doch schon wenig später drei Franzosenbälger, die ein derart sympathisches Bild hergeben, daß man wieder einmal sehr schön sehen kann, wie sich alle Menschenkinder gleichen, solange sie Kinder sind. Später dann macht die zuständige Gesellschaft aus ihnen, was sie zu Tourismuszwecken und zum Vorzeigen so braucht, und das sind in Frankreich eben leider Franzosen mit zusammengefaltetem Gesicht und dickem Kugelbauch, die dann vor den hübschen Häuserfronten ein attraktives Ziel für manch fotografischen Schuß abgeben. Man möchte es, man will es nicht glauben, aber auch aus den drei kleinen Engeln, die da im Nachthemd auf die Straße geflattert kamen, werden leider noch einmal Franzosenmenschen. Oder literarisch gesagt:
Als
das Kind Kind
war wußte es
nicht daß es
Kind war
aber am Ende
als Franzose war
es schlimmer
auf immerdar.
*
Noch eine andere Neuigkeit fiel mir bei der Militärbeobachtung ins Auge, nämlich, daß zwischen dem Ginster noch eine Menge anderes Gewächs gepflanzt ist, wo die gelbe Wucherei Raum gelassen hat.
Art des Gewächses: Niedrig verholzte Haupttriebe verkrüppelter verzweigter Gestalt. Die Blätter bilden einen unzureichenden Wall um das Holz, das dem Blick somit weitgehend schutzlos preisgegeben ist. Die Pflanzen stehen, oft entlang sorgsam gespannter Schnüre aufgereiht, in sauberen Bahnen, durch die man im Vorüberfahren beste, weil durch Bewuchs nicht behinderte Sicht erhält. Diese Bahnen sind teils rechtwinklig, teils im schrägen Winkel zur Straße angelegt und dienen dem Bauern als Fahrspur für eine Art schmalen Traktor, vermittels dessen er Feuchtigkeit und verschiedene wuchsfördernde oder ungeziefervertilgende Chemikalien auf dem Feld anzubringen pflegt. Dies ist ihm ein sehr wichtiges Anliegen, zählt doch das letzten Endes aus diesen Pflanzen gewonnene Getränk eindeutig zu den großen Freunden des Franzosen, die er beim Essen – aber auch sonst – nicht missen möchte. Es handelt sich bei diesen Pflanzen um Weinreben. Schluß des Vorhergehenden.
Am Ende erreichen wir doch unbehelligt den Strand, der schon von zahlreichen abgestellten Reisebussen ordnungsgemäß versperrt wird. Wir schälen uns aus den unterdessen rotglühend verfärbten und völlig zerkochten Automobilen heraus und begeben uns in auf dem weichen Sand sehr würdelos und peinlich ausfallendem Laufstil ein gutes Stück näher an die lärmende Wassergrenze heran. Ständig klatscht das Meer hier sogenannte "Wellen" gegen unser geliebtes Festland, um seine Macht und Größe zu demonstrieren, wie weitgehend vermutet wird. Das wahre Motiv für die Meeresbewegung ist allerdings bis heute unklar. Anhänger einer mechanischen Weltsicht behaupten, die Ursache in Wind und Strömungsbewegungen wie auch, wenn die Sprache auf die Gezeiten kommt, in der Position von Mond und Sonne in Bezug zu unserem Heimatplaneten entdeckt zu haben, lediglich muß der gesunde Menschenverstand hier klar unterscheiden zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit, denn es ist ja ganz deutlich zu erkennen, daß eine bunte Scheibe wie der Mond oder die Sonne, bei aller Hitze, die ja vor allem die letztere bisweilen abzusenden vermag, nicht mit dem Meer, das ja zu einem Großteil aus Wasser besteht, verbunden sein kann. So einfach lassen sich die Menschheitsrätsel eben nicht auflösen, so gern jeder – auch ich übrigens! – das auch sehen möchte. Da ist eben rechtes Erkennen gefragt!
Ganz unbelastet von solchen Überlegungen eröffnet man nun am Strand ein Lager, indem man einige Luftmatratzen dickwangig aufbläst und Handtücher in den Sand steckt. Anschließend genießt man die Aussicht.
Das Beobachtete: Das blaue, unbewegte Meer in seiner großen Weite ist es in der Hauptsache, was den faszinierten Blick des Betrachters an sich zieht. Hier strahlt einen die Größe der Welt an, die ja vorgeblich schon auf Dorfumfang zusammengeschrumpft sein soll wegen der modernen Wissenschaft und ihrer Technik. Das kann aber, wie man hier am Strand deutlich zu sehen bekommt, nicht ganz stimmen.
Faszinierend auch der Gedanke, daß Kolumbus oder Hannibal einmal so am Ufer eines Meeres gestanden haben, wie ich es jetzt tue, und aber dennoch längst tot sind, das Meer seinerseits aber noch ein Weilchen weiterleben wird, wenn sogar ich nicht mehr lebe. Und wenn man Einsteins Fahrt über den Atlantik noch mit hineinnimmt, wird es ganz abenteuerlich.
Auch Napoleon, ein Franzose, hat ja eine Zeitlang in diesem Meer gewohnt, das da heißt: das Mittelmeer. Der alte Franzose und das Meer, sozusagen, aber das ist eine ganz andere Geschichte. Schluß des Vorhergehenden.
Der weitere Tag am Strand wird im wesentlichen mit der Lektüre von "In Schwimmen-zwei-Vögel" von Flann O’Brien und dem Erwerb eines Sonnenbrandes verbracht, welch letzteres sich aber erst am folgenden Tage in aller Deutlichkeit erweisen wird.
Zurück im Dorfe wird rasch ein Abendessen weggeputzt, danach verriegelt die Oma wieder vorn und hinten alles und der Franzose hat erneut das Nachsehn.
Im Anschluß geht die ganze Bagahsch dann jammernd zu Bett, weil die Haut allenthalben gehörig schmerzt. Erst als ich das meinige bezogen habe, fällt mir auf, daß mein Kopf heute von allen Anschlägen geschont wurde. Die Ruhe vor dem Sturm? Beunruhigt schlafe ich ein.
Ganz abenteuerlich die Anwesenheit Einsteins auf dem Atlantik, wo er 1933 auf einem Schiff seiner Ankunft in Princeton entgegenfuhr. Jahre zuvor hatte er seine Relativitätstheorie entworfen und war auch sonst ein ganz guter Physiker gewesen. Ihn an dieser Stelle im Buch anzutreffen, muß uns allerdings ein wenig befremden.
Dienstag, 01. JuniDer Tag beginnt, von mir freilich ganz unbemerkt, mit dem Heraufsteigen der Sonne, dem alten Stück.
Als ich aber aus den Federn schließlich ans Tageslicht gelange, hat sich der Himmelsofen dort oben schon ganz gut eingerichtet und strahlt was das Zeug hält seine gelbe Hitze herunter, die ja bekanntlich von der Fusion von Wasserstoffatomen untereinander herrührt und die Entstehung von Helium als Nebenprodukt des Ganzen mitabwirft. Das führt zu großen Turbulenzen im Inneren der Sonne, die ein Fixstern ist, sich also kaum bewegt. Wenn man so nach oben sieht, möchte man das ja schwerlich glauben, aber die moderne Wissenschaft lehrt uns überzeugend, daß es so hinkommt.
Ganz egal kann uns Menschen das alles aber sein, wenn es daran geht, trotz starker Verbrennungen der Haut, die ihre Ursache in den erwähnten atomaren Brennprozessen haben, Bewegungen vorzunehmen. Es meldet sich dann nämlich derart heftig ein Schmerz zu Wort, daß man meint, die Engel auf ihren Wolken droben Schlittschuh laufen zu hören.
Art des verwendeten Bildes: Affektiert, unglaubwürdig.
Aber ich möchte hier über diese Unbill das große Leichentuch des Schweigens verbreiten und nicht von meinen Schmerzen reden, denn das tut ja nur der Schwache. Leicht läßt sich etwa ein Franzose denken, der in aller Weichlichkeit, wie es seiner unguten Sprache entspricht, von seinen Schmerzen spräche, aber der Edle leidet und schweigt.
Nur ein Wort soll noch über meinen Sonnenbrand gesagt sein, nämlich das, daß er furchtbar schmerzte. Nun ist es genug.
Der weitere Fortgang des Tages führt unsere kleine Gesellschaft dann in eine etwas größere Stadt des südlichen Frankreich, in der es einiges zu betrachten gibt. Zuallererst bestaunt man eine kleine Statue, ein Standbild, das in großem Umfeld, auf nämlich etwa 100 mal 100 Metern, von in exaktem Raster gepflanzten roten Blumen umgeben wird. Das muß man neidlos anerkennen, daß hier sauber und wie mit dem Lineal gearbeitet wurde. Sehr schön. Meine Versuche, die Anschrift des Architekten der ganzen Szene zu ermitteln, damit er die Tübinger städtischen Anlagen, die sich leider in allzugroßer Verwilderung befinden, auf Zack bringt, scheitern aber allesamt an der leidigen Sprachbarriere. Als ich dann noch von einer ansonsten recht freundlich aussehenden Frau, die sich die ganze Zeit über in einer Art Wohnwagen aufhält, anstelle eines Stückes Papier, auf dem die gewünschte Anschrift enthalten gewesen wäre, eine Spitzwaffel mit einigen Kugeln Eis erhalte, beschließe ich, die Bemühungen einzustellen und schließe mich erneut unserer Erkundungsgruppe an, die schon dem nächsten Ziel zustrebt. Leider kommt es nun jedoch zu einer sehr unschönen Szene, weil die Frau nicht darauf verzichten kann, mir nachzusetzen und auf der Herausgabe von französischem Geld zu bestehen. Zerknirscht händige ich ihr schließlich einige Münzen aus, um das Aufsehen gering zu halten und meine Tarnung nicht unnütz zu gefährden, bin aber hochgradig verärgert. Man sieht doch gleich wieder, in welchem Land wir sind!
*
In derselben Stadt entdecke ich dann aber beinahe doch noch ein Argument für die Freundlichkeit dem Franzosen gegenüber, der nämlich allem Anschein nach nicht ganz grundlegend verlottert und verschlampt, sondern wohl eher bisweilen ein wenig nachlässig und unaufmerksam ist. Obwohl nämlich die Tage zuvor besuchte Grotte sehr verdreckt und in insgesamt recht kläglichem Zustand war, ist die Tropfsteinhöhle (passage souterrain), die wir überraschend mitten in der Stadt Beziers entdecken, sehr passabel. Die Wände sind ordentlich glattgeschliffen und sauber geweißelt, der Boden ordnungsgemäß gefegt und kein Steinbrocken kann das Wässerchen eines sehr schönen Gesamteindruckes trüben. Komisch finde ich nur, daß diese sogenannte "Tropfsteinhöhle" keinen einzigen Tropfstein im Angebot führt. Also doch wieder Betrug, wie man sieht; nur eben diesmal bestens getarnt. Der Franzose kann nicht aus seiner Haut.
Wir Deutschen sind da ja von der Biologie begünstigt und haben es allemal leichter; kaum liegen wir einen Tag am Strand, schon fällt alles alte von uns ab und wir sind wieder wie neu. Das erstreckt sich jedoch leider nicht bis hin auf die Bettwäsche und bereitete mir dadurch am nächsten Tag eine kurze Zeit des peinlichen Zusammensuchens verschiedener Teile meiner Körperoberfläche. So geht das.
*
Am Abend versammelt man sich dann wie üblich zum schmackhaften Mahl. Es gibt aber wider Erwarten diesmal kein Miracoli sondern einen südländischen Salat, zu dem dann auch folgerichtig zahlreiche Oliven gereicht werden. An diesen putzigen kleinen Früchten, die wegen ihrer Form mitunter für Beeren gehalten werden, was sie ja tatsächlich auch sind und, ja, vielleicht sogar der Inbegriff des Maritimen und Mittelmeerhaften, entzündet sich dann ein munteres kleines Gespräch.
Das Gespräch: Die Oliven sind gut, sagte der Opa und schob sich eine der genannten Früchte in den Mund.
Die Oliven sind spitze. sprang ihm sofort die Oma bei.
Es entfaltete sich nun eine kleine Gesprächspause, in der alle still kauten und die Blicke hierhin und dorthin wandern ließen.
Der Franzose ißt Oliven ja sehr gerne. nahm der Vater den Faden wieder in die Hand, und setzte nach einer kurzen Pause
der Grieche im übrigen auch. hinzu, was insgesamt beifällig benickt wurde.
Wir aber auch. schaltete sich nun die Schwester ein wenig überflüssig ein, verlieh dem Gesagten aber durch sofortiges Verzehren einer Frucht des Ölbaumes, einer Olive also, Nachdruck.
Die Liebe zur Olive ist dem Franzosen angeboren. stellte nun der Opa klar.
Ich kannte einen Franzosen, der konnte morgens, mittags und abends und auch den ganzen Tag über, immer wenn er Hunger hatte, zu seinem Kühlschrank gehen und wenn er darin ein Glas mit kleinen Früchten fand, dann aß er radikal alles auf. Diese Früchte waren natürlich Oliven und seine Frau lief sobald der Vorrat zur Neige ging in den nahen Supermarkt und kaufte eine neue Ration.
Teuer sind Oliven ja nicht gerade. sagte der Vater.
Im Gegenteil, pflichtete der Opa bei, sind Oliven vielleicht das Grundnahrungsmittel aller südlichen Völkerstämme. Das wäre bei einem hohen Preis gar nicht durchzuführen.
Der Franzose wächst ja praktisch mit der Olive auf. sagte der Vater.
Von Kindesbeinen an bekommt er immer, wenn er möchte, soviele Oliven wie nur gerade im Haus vorrätig sind auf den Tisch. Und das sind, Hand aufs Herz, auch bei einfachen Franzosenmenschen doch meist eine ganze Menge. sagte der Opa.
Dennoch bekommt der Franzose die Olive zeitlebens niemals über. sagte der Vater.
Die Olive hat eben ein ganz wunderbares, unvergleichliches Aroma. Von besonderem Wert für die menschliche Gemeinschaft ist freilich vor allem die grüne Olive, der ihr Kern belassen wurde. Auch wenn einiges für die schwarze Olive ins Feld geführt werden kann, ist es doch die grüne Olive, der das Herz eines vernünftigen Menschen gehören muß. sagte der Vater.
Vor allem ist darauf zu achten, sagte der Opa, daß der Olive keine geschmacksverändernden Mittel wie Paprikapaste beigegeben sind. Diese vernichten das ursprüngliche Aroma und sind fast schon ein Verbrechen an der Menschheit, zumindest aber an der Olivenkultur.
Die Tomaten sind spitze. warf hier die Oma ein und erntete vorerst verblüfftes Schweigen. Man fing sich aber rasch.
Mit der Olive als dem Inbegriff des Maritimen kann die Tomate, die ja übrigens erst aus Südamerika und von Kolumbus eingeführt werden mußte und nicht zum eigentlichen Ernährungsfeld des Südeuropäers zählt, nicht konkurrieren. stellte der Vater richtig. Und aß eine Olive.
Außerdem ist die Olive sehr gesund und enthält reichlich Vitamine.
Wir haben auch Multivitamintabletten dabei. Warf sich hier die Schwester ins Rennen, wurde aber ignoriert. Aus der Olive kann man auch auf verschiedenem Wege ganz wunderbares, sogenanntes Olivenöl gewinnen. Man spricht dabei, falls der Preßvorgang mit Hitze verbunden wird, vom Baumöl, in Falle einer kalten Pressung aber vom Jungfernöl. Beide Öle sind sehr beliebt und recht nützlich. sagte der Vater.
Weitgehend unbekannt im Bereich der Olivenwissenschaft ist übrigens auch, sagte der Opa, daß die Handgriffe an Fenstern, die dem Verschluß derselben dienen, Olive genannt werden, wiewohl sie nicht aus Olivenholz hergestellt werden!
Die Olive ist spitze. tat die Oma kund, die soeben wiederum eine der Früchte verspeiste. Man hat übrigens früher auch in Deutschland versucht, die Olivenzüchtung im großen Stile zu betreiben, ist aber an den klimatischen Wetterverhältnissen zuletzt gescheitert. Deshalb mußte man dann auf Weizen ausweichen, der aber mit der Olive in keiner Hinsicht mithalten kann. sagte der Opa.
Wer hat nicht schon Olivenkerne über Meter hinweg fremden Personen an den Kopf gespuckt. sagte der Vater mit schiefem Blick auf die Schwester, die auch sofort verstand.
Ich hab das noch nie gemacht. schmollte sie.
Die Oliven sind spitze. sagte die Oma und der Vater und der Opa sahen sich betreten an. Das hatten sie doch längst gehabt! Schluß des Vorhergehenden.
Der Tag war nach dieser Unterhaltung, wie man sich wohl vorstellen kann, recht schnell beendet.
Mir bleibt nur noch, wegen des Inhaltes des vorstehenden Gesprächs einen kleinen Satz anzubringen, nämlich: Honi soit qui mal y pense, was soviel heißt wie: Wer im Glashaus sitzt, kann sich das aufs eigene Hosenband schreiben. Gute Nacht soweit.
Die Olive ist auch in Deutschland zu bekommen, wo man entweder im Supermarkt ein Glas erwirbt, das mit einem Etikett wie dem oben gezeigten versehen ist, oder aber aber mit einen fahrenden Händler, meist griechischer Herkunft und mit krausem Haupthaar versehen, ins wohlschmeckende Geschäft kommt. Multivitamintabletten haben damit, wie man wohl deutlich sieht, nicht viel zu schaffen!
Mittwoch, 02. JuniDieser Tag soll der letzte ruhig in fremdem Land verbrachte werden, weswegen man sich nochmals einiges vornimmt, ehe es dann wieder zurück in die Heimat geht. Zum Ziel hat man sich eine Stadt ausgesucht, die Séte heißt, was wieder einmal überhaupt keinen Sinn ergibt. Da sind mir Stadtnamen wie Stuttgart oder Esslingen doch schon sehr viel lieber, weil man sich darunter wenigstens etwas vorstellen kann.
Die Fahrt nach Séte führt uns wie erwartet mitten durch zahlreiche Ginsterbüsche hindurch, aber nun ist es im menschlichen Leben ja oft so, daß man sich an ganz ungewöhnliche Sachverhalte, wenn sie immer wieder und wieder auftreten, recht schnell gewöhnt und so kann ich schon nach so kurzer Zeit ganz vom Ginster absehen und meine Aufmerksamkeit der anderen Landschaft zu richten. Dabei fällt mir erstmals auf, daß hier überall auf den Hügeln und Bergspitzen zahlreiche Gipfelkreuze aufgepflanzt stehen und von Jesu Leiden für unsere große Menschheitsfamilie zeugen. Schön, das.
Bei der Durchfahrt durch ein kleines Dorf dann fällt mir erstmals die Kirche mit ihrem Glockenturm ins Auge, der gar über keinerlei Dach verfügt und deswegen die Glocke im Freien hängen lassen muß. Eine kleine Weile male ich mir aus, daß bei Hagelschlag das ganz lustig in den Ohren klingeln muß und daß dann wahrscheinlich alle die südfranzösischen alten Bäuerinnen aus ihren Häusern gelaufen kommen, weil sie denken, es gelte einen Gottesdienst abzuhalten. Dabei würden sie alle mitten hinein ins schönste Hagelgeprassel geraten und dann, wenn sie in der Kirche ankommen, enttäuscht feststellen, daß kein Pfarrer weit und breit anwesend ist. Darüber sind diese rechtschaffenen Weiber nun so entrüstet, daß sie die Kirche mit Stumpf und Stiel und allem, was drinnen ist, abreißen und aus den Ziegelsteinen Pflanztröge für Ginsterbüsche anfertigen. Die Glocke wird in die Erde hineingemauert und man läßt es sich fürderhin in diesem Dorf gutgehen. Jedes Jahr, wenn das Datum des großen Hagels herankommt, feiert man ein großes Fest mit Langnese oder Schöller, weil das besser schmeckt als Taubeneierhagelkörner und am Kopf auch nicht so schmerzt.
Das alles wäre zweifellos sehr schön und ansprechend, aber leider hat die französische Kirche es so eingerichtet, daß es im Süden kaum einmal regnet und schon gar nicht hagelt, so daß hier erneut alles Vision bleiben muß. Man könnte heulen.
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Doch auch nachdem wir der Straße weiter gefolgt sind, stellt sich keine ersichtliche Besserung der Verhältnisse ein. Überall an Hängen und auch in der Ebene verbrennt der Franzose ihm lästig gewordene Materialien aus dem Umfeld seiner Behausung, und veranstaltet einen großen Gestank damit. Vom Rauch will ich hier gar nicht reden, weil man aus der Position des moralisch Überlegten natürlich gerne einräumen kann, daß der Rauch sich rasch in die Winde verzieht und die Sicht während der Fahrt höchstens unmerklich verminderte. Aber der Gestank war schon eine große Belastung für uns alle, vor allem, wenn er durch die Lüftungsschlitze des Automobils, die ansonsten in der leidigen französischen Hitze aber eine vom deutschen Ingenieur sehr trefflich überlegte Einrichtung vorstellen, zu uns hereingetragen wird und uns an die Nasen kommt. Draußen in der Natur würde es gar nicht mal stören, aber drinnen ist man es doch rasch leid und ersehnt sich Besserung. Schade, daß es vergeblich ist!
Kurz bevor wir unser Ziel erreichen bekommt man dann noch eine besonders unsinnige Erfindung des Franzosen zu sehen. Der Lump, man möchte fast zur stärkeren Vokabel greifen und ihn Haderlump heißen, der Haderlump also hat tatsächlich, weil ihm nämlich ein Strand zuwenig war, um rechtschaffene deutsche Urlauber um Sinn und Verstand zu bringen, mitten ins Meer hinein einen sogenannten zweischneidigen Strand gebaut. Das ist ein ein paar Meter breiter Streifen aus Sand und einigen Häusern, der links und rechts der Straße, die mitten über ihn weggebaut ist, im Meere verläuft. An den Enden ist der Streifen mit dem Festland verknotet und wird deshalb von der Flut nicht weggespült. Die Flut ist aber am Mittelmeer nur etwa einen Meter hoch, bei Tauwetter ein Meter fünfzig, und sowieso war das mit dem Wegspülen nur ein Witz.
Jedenfalls müssen wir uns über diesen Strand plagen und sehen bedrückt all den Offenbachern, Mannheimern und Hamburgern zu, die dem Franzosen hier ins Schleppnetz gegangen sind und an diesem künstlichen Gestade baden! Wenn man soviel menschliches Elend mitansehen muß, ist man doch froh um seinen geschärften Intellekt, der einen vor derart peinlichen Situationen zuverlässig zu bewahren weiß. Aber wie heißt es doch so schön: Des Menschen Wille ist sein Himmelreich!
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Am Ende verlassen wir aber auch diesen unschönen Abschnitt der französischen Seele unbeschadet und erreichten endlich Set‚. In der Stadt selbst gibt es nicht viel zu sehen, weshalb man gleich ganz nach oben hinauf steigt und sich von dort das Land drumherum ansieht. Das ist ganz hübsch, vor allem aber ist sehr interessant, daß der Franzose in seinem Bemühen um das Einnehmen ihm fremder Kultur mitten ins Meer hinein einige riesenhafte Schachbretter installiert hat. Natürlich ist das großer Unsinn, weil ja niemand dort spielen kann, aber ein reizender Zug ist es doch. Leider erfahre ich später, daß die ganzen Schachbretter mit Muscheln verschandelt sind, weil niemand diese Schalentiere wieder wegputzt und bin nicht überrascht. Allmählich lernt man aus!
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Ebenfalls oben auf dem Bergesgipfel befindet sich eine schmucke kleine Kirche, in deren Innenraum alles mit Menschenbildern vollgemalt ist. Wahrscheinlich wurde das vom französischen Papst in Avignon so befohlen, weil es dann im Fernsehen so aussieht, als ob einige tausend Leute da wären, obwohl es in Wahrheit nur ganz wenige sind. Das Lügen, hier sieht man es sehr schön, hat eine lange Tradition in diesem Land.
Die nächste Entdeckung aber ist dann so ungeheuerlich, daß auch ich mich zeitweise weigere, ihr Glauben zu überlassen. Oben an der Wand steht nämlich der Name der Stadt aufgeschrieben, in der wir gerade sind. Das bemerke ich jedoch nicht sofort sondern erst nach einer Belehrung, weil es nämlich "cette" heißt, dort an der Wand. So haben die alten Lateiner diese Stadt genannt, lieber Jean oder Jacques – oder wie sie immer heißen, die Welschen! Cette! Man wird wohl von einem menschlichen Wesen erwarten dürfen, daß es die einfachsten Verrichtungen wie zum Beispiel Abschreiben oder Nachsprechen fehlerfrei hinbekommt, aber nein, weit gefehlt! Sétè! Lachhaft!
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Für den weiteren Tag wird der gefaßte Plan, sich erneut dem Meer in den Rachen zu werfen, mit Vehemenz in die Tat umgesetzt. Allerdings ist der Aufenthalt hier sehr enttäuschend, weil im Wesentlichen alles noch ganz genauso aussieht, wie beim vorigen Besuch. Und das, obwohl der an einem ganz anderen Stück Sand stattgefunden hatte. Aber in Frankreich ist eben überall alles ganz gleich. Wenigstens hat es hier keinen Ginster.
Am Horizont kann man aber überraschenderweise die Pyrenäen sehen, und das an einer Stelle, wo am Vortag noch blauer Himmel gewesen war. Offensichtlich ist der Franzose also dabei, die Elemente der Reihe nach zu erschließen und sich untertan zu machen. Und zwar handelt es sich hier um die Möglichkeit, durch den Einsatz geeigneten Geräts die Gesamtheit eines Berges nach Beliebigkeit hin und wieder her zu verschieben, ohne daß es dem Berg einen Abbruch täte. Diese Tätigkeit wird von der Natur selbst nur unvollkommen beherrscht, wie man an den Bergen sieht, die unter der Einwirkung von Flüssen zwar am einen Ort spurlos verschwunden sind, aber nirgendwo sonst wieder auftauchen. Es handelt sich also beim Transfer von Gebirgen um eine großartige Erfindung ohne das übliche Abkupfern bei der Natur. Leider ist aber bei allen großen Erfindungen der Pferdefuß Krieg schon mit inbegriffen, denn es kann ja ein Gebirge Deckung für Panzergeschütze und Gebirgsjägerdivisionen und sogar bataillone bereitstellen. Wenn die Berge dann sogar noch Höhlen enthalten, werden die Möglichkeiten, zumal beim unübersichtlichen Zustand, in dem sich diese Wunder der Natur in Frankreich bekanntlich befinden, vollends unüberschaubar. Man stelle sich die Wirkung vor, wenn ein Pyrenäenberg voll mit französischen Bergfremdenlegionären plötzlich mitten in Berlin oder Bonn, je nachdem, auftauchte. Da wäre allein die psychologische Wirkung schon Gold wert, vom Militär mal ganz abgesehen. Aber um solchen Dingen vorzubeugen gibt es ja gottlob uns Journalisten, die mitten aus dem Schlachtgetümmel frei von der Leber weg erzählen, was ihnen vors Auge kommt und so das Verständnis der Nationen untereinander verschärfen.
Erst nachdem wir schon einige Stunden am Strand sind und ich praktisch schon vollständig unter einem Berg von Handtüchern und ähnlichen Ufau-Hemmern verschwunden bin, entdeckt die Schwester am Horizont befindliche blaue Flecken im Meer, die nicht ins sonstige blaugefleckte Bild passen wollen. Näheres Hinsehen vermittels eines Vergrößerungsglases bringt die Erklärung: Es handelt sich bei den Objekten um sogenannte "Badeinseln", die der Franzose mit Vorliebe durch die Kraft seiner beiden Lungenflügel mit Luft füllt und die dadurch die Form eines sogenannten Hier sieht man sehr schön abgebildet, wie der Franzose die Umwelt vermittels Kunststofferzeugnissen versaut und verschandelt. Weit hinten schwimmen die unsäglichen "Swimming-Pools", während der Gegenstand in der rechten Bildhälfte vermutlich eine geleerte Plastikflasche vorstellt. Wohin der buntgefärbte Inhalt verschwunden ist, wollen wir lieber nicht fragen.
"Swimming-Pools" annehmen. Ins Innere dieser beckenartigen Angelegenheit gibt man sodann salzarmes Trinkwasser aus kleinen Glaskaraffen, wie sie sich auf den Tischen in jedem Strandlokal finden, und rudert das Ganze dann weit hinaus auf die hohe See. So leistet der Franzose sich den Luxus des Süßwasserbadens mitten im salzigen Ozean und bedenkt nicht, daß die Folgen für die Ökologie beträchtlich sind. Zum Beispiel wird nur allzuoft von den scharfgezackten Rückenflossen der Haifische ein großes Loch in die dünnen Böden der Inseln gerissen und infolge der Vermischung von Salz und Süßwasser entsteht nun giftige Wassersäure, die durch den Effekt der Porösierung der Luftkammern zum Sinken aller Plastikteile führt. Meist werden die Fetzen dann von einem Blauwal eingeatmet und verstopfen dem armen Tier die Kiemen, so daß es auch noch kläglich verhungern muß. Der Franzose ist derweil aber zurück an den Strand gerudert und liest ein wenig Baudrillard oder was sonst so Mode ist im Moment. Es ist alles so falsch!
*
Am Abend Rückfahrt, Miracoli, Bettstatt, das alte Lied. Der Gedanke von der Widerkehr der Dinge gegen ihren Schöpfer kommt mir ins Gemüt, vorher aber schlafe ich ein und gebe mich unruhigem Träumen hin.
Der Traum: Zwei Männer steigen keuchend und ächzend einen schimmeligen Waldweg hinauf. Der eine hat verschiedene Werkzeuge in einem monströsen Handkarren aus schweren Stahlplatten und sogenannten "T-Trägern" bei sich, der andere trägt eine Schildmütze, bei der er das Schild nach hinten gekehrt hat und die mit dem Namen einer US-Amerikanischen Baseballmanschaft bedruckt ist. Nach einem kurzen Intermezzo mit einem überraschten und schlechtausgerüsteten Trupp Gebirgsjäger, in dessen Verlauf es zu einigen Todesopfern kommt, machen die beiden am Gipfel des Schauplatzes Halt. Der erste, dessen Name offensichtlich Graissesac ist, beginnt damit, das fünfzehn Meter hohe Gipfelkreuz, an das eine Nachbildung des Leichnams Christi in Überlebensgröße angebracht ist, aus deren Wunden ständig, von einer kleinen Elektropumpe verursacht, rotgefärbtes Wasser fließt, umzusägen, während der zweite den umliegenden Ginster mit Tretminen und Stolperdrähten hinreichend absichert. Während unter großem Getöse das Kreuz in sich zusammenbricht, verendet wegen der Vorkehrungen der zweiten Person, die also Herepian heißen muß, ein weiterer Trupp Gebirgsjäger im Vorfeld der Ereignisse. Graissesac macht sich daran, von der Spitze des Kreuzkörpers einige Splitter abzubrechen, die Herepian dann aufißt.. Nachdem dies gelungen ist entfernen sich die beiden vom Tatort und verschwinden unbehelligt im nahen Wald. Schluß des Vorhergehenden.
Donnerstag, 03. JuniDer Tag wird recht früh am Morgen gestartet und in seinen ersten Stunden damit verbracht, das umfangreiche Gepäck nach Größe und Besitzer zu sortieren und anschließend im Hinterteil des Automobils zu verstauen. Man beachtet dabei vor allem raumökonomische Prinzipien, so daß schon wenig später alles zur besten Zufriedenheit untergebracht ist. Auch der Kassettenspieler der Schwester wird übrigens wieder mitgenommen, trotz meines lautstarken Plädoyers, das ohnehin defekte Gerät, um Benzin und Reifenabrieb zu sparen, die ja aufgrund neuester Forschungen durch hohes Fahrzeuggewicht negativ beeinflußt werden, hier zu belassen. Das wäre auch meinen Plänen ganz gut bekommen, hatte ich doch schon ein Magnetband präpariert, auf dem, da es mit dem defekten Spieler aufgenommen war, nichts zu hören war, wenn nicht hilfloses Jaulen. Dieses Band hätte ich in das Gerät hineingegeben und beide anschließend im Wandschrank der Küche versteckt, wo das kurz nach unserer Abfahrt ankommende Prisenkommando der Franzen sie dann gefunden und mit der Erforschung der ganzen Angelegenheit wertvolle Minuten vergeudet hätte. Doch leider macht die große Ignoranz des Zivilisten mir hier den ganzen Plan zunichte. Es wird also nochmals riskant!
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Aber wir sind immer schnell über die Gleise gefahren.
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Nun sind wir ja bereits einige Wochen hier in diesem unwirtlich heißen Land und haben uns Tag für Tag an verschiedenen seiner Orte aufgehalten. Um zu unserem jeweiligen Aufenthalt hinzugelangen mußten wir immer über die enge Talstraße fahren, die, wie alle Straßen in Frankreich, irgendwo über Eisenbahnschienen wegführte, die jedoch stets auf Anhieb passierbar waren. Vermutlich verfügt der Franzose in diesem Teil seines Landes ohnehin nicht über Züge, die ein Herablassen der Beschrankung rechtfertigen könnten, weil er alle Waggons dringend für die Hin und Herschieberei seiner Gebirge und der dazugehörenden Truppen benötigt.
An diesem Tag jedoch war der Übergang schon gesperrt, als wir noch großen Abstand davon nahmen und je näher wir kamen, desto offensichtlicher wurde, daß sich dieser Zustand nicht zu ändern beabsichtigte. Schließlich mußten wir sogar stoppen!
Natürlich war mir gleich klar, daß es sich hier um einen Versuch handelte, uns aufzuhalten. Sicher war die Einsatzgruppe, die mit unserer Verfolgung beauftragt war, hoffnungslos verspätet, weil der Franzose ja sowieso erst sehr spät am Tag aufsteht und dann zuerst sein merkwürdiges Brot, das Baguette, erwerben muß, ehe er an andere Verrichtungen zu denken vermag. Mit dem Brotlaib läuft er aber zuerst noch ein, zweimal um die Dorfkirche herum, das Brot hochgereckt auf dem Rücken oder flachgelegt unter dem Arm, jedenfalls aber deutlich sichtbar. Hier findet dann auch die überall vorhandene Dorfkirche ihren lebensnahen Sinn, denn solche Rituale sind es schließlich, die den Zusammenhalt einer eher einfach gestrickten Kultur überhaupt nur ermöglichen.
Deswegen kann auch eine Spezialagenteneinsatzgruppe, die ja im Dienst für ihr Vaterland steht, nicht vom morgendlichen Baguettekauf absehen und tanzt wahrscheinlich grade eilig um die kleine Kirche in Rongas herum, während wir unseren kostbaren Vorsprung hier durch Herumstehen an einem Bahnübergang zusammenschmelzen lassen. Aber im Moment sind uns leider die Hände gebunden.
Schon einige Minuten später geht die Fahrt dann wegen der Entfernung der störenden Schranken dann weiter, ohne daß die befürchtete Konfrontation mit den gegnerischen Soldaten aufgetreten wäre. Man kann, so betrachtet, froh sein, daß wir es nur mit dem Franzosen zu tun haben, denn was z.B. ein James Bond mit uns getan hätte, während wir an diesem Bahnübergang standen, will ich gar nicht malen. Zu schrecklich würde das Bild, das mir dabei vor Augen schwebt.
Glücklicherweise ist aber sowieso der Herr Bond eine Erfindung eines englischen Schriftstellers, der, als er nichts besseres zu tun fand, einen sogenannten "Agentenroman" herunterschrieb und ihn dann sogar verkaufen konnte, was ihn so freute, daß er gleich einen neuen Agentenroman schrieb usw. usw. Der Name des Mannes war Ian Fleming.
Ein anderer Engländer, der ganz lesbare Romane über die Bearbeitung von Kriminalfällen verfaßte, war ein gewisser Arthur Conan. Seine Bücher haben aber leider alle einen kleinen Schönheitsfehler, und zwar ist dem Helden eine Art Arzt zur Seite gestellt, der ihn unterstützt. Das ist aber erheblicher Unsinn. So kann man durch Schludrigkeit im Denken auch die beste Idee ins Verderben bereiten und der Weltliteratur sein Können vorenthalten.
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Die weitere Fahrt durch das Franzosenland verläuft überraschend ruhig und gesittet. Die Autobahn ist wie auf der Herfahrt schon beinahe leer, am Himmel scheint uns das Gestirn recht warm und weist via Angabe der Himmelsrichtung den Weg. Übrigens läßt sich die Himmelsrichtung ja perfekt ermitteln, indem man den kleinen Zeiger der Armbanduhr auf die Sonne richtet, bei Digitaluhren den Längsstrich der eins, wenn es zwölf Uhr ist. Das ist dann Süden oder Norden, je nach Richtung.
Während um uns her der Ginster sich allmählich ausdünnt und weniger wird, rückt abermals der Zeitpunkt näher, wo wir in Lyon die furchtbare Ausstreuung von Industrieabgasen in die Umwelt zu erdulden haben. Gottlob sind die Schlote wenigstens so hoch, daß wir keinen Gestank ins Fahrzeug bekommen. Das wäre auch noch der Abschuß gewesen!
Als wir dann von der Autobahn rechts abbiegen auf eine zweite, die nach Osten führt, beginnt die Sonne in unserem Heckfenster bereits, Kleider abzulegen und ein Bad im fernen Atlantik zu nehmen, den wir allerdings nicht sehen. Vorne im Osten sieht der Himmel aus wie schimmliges Brot und wenn es nicht sowieso abend wäre, könnte sicherlich keiner unserer ganzen Gruppe frühstücken bei diesem Anblick vor lauter Übelkeit. Man spricht ja immer von der Majestät und der Ruhe, die das Anorganische angeblich ausstrahlt, aber beim Anblick dieses verfärbten Himmels wird das doch sehr relativiert. In der Ferne wird der Horizont von zerrissenen Ketten von Bergen, den Vorboten der Alpen, verziert und in die Höhe gezogen und nimmt dadurch dem Himmel ein wenig von seiner erdrückenden Größe. Man stellt sich leicht vor, daß auf dem Meer, wo der Horizont ja meist sehr glatt und tief liegt, die große Präsenz der eklen Himmelsfarbe für Übelkeit und Erbrechen sorgen kann. Das nennt der Seemann dann in seiner Unwissenheit Seekrankheit und führt es auf das Schaukeln zurück, aber wir wissen es nun besser.
Überhaupt gibt es ja in der Seemannssprache so manches üble Garn, man denke nur an das Wort vom "Kiel holen", ein solch grober Unfug, daß es selbst im Ausland schwer fällt, dümmeres zu finden. Bezeichnend ist, daß der Ausspruch aus dem piratischen der kubanischen Südsee zu uns gekommen ist und lediglich von einigen verkommenen Subjekten deutscher Sprache, die es ja leidergott in jedem Land gibt, ins Deutsche übertragen wurde. Davon wird es aber nicht besser.
Ins gleiche Horn stößt natürlich das "Segel raffen", dessen man sich vor allem in Filmen mit Errol Flynn gern befleißigt, auch hier: unglaubliche Verantwortungslosigkeit. So wird die Raffgesellschaft noch vermehrt, die doch umzumünzen wäre in eine solche, in der Nächstenliebe noch mehr gilt als bloß ein Wort. Ach, wer dem Übel wehren könnte!
Gleichermaßen mit vielen Vorurteilen behaftet ist ja auch die Weltliteratur allgemeiner Art. So schön der Herr der Ringe beispielsweise auch an manchen Stellen zu lesen ist, es kommt doch im ganzen Verlauf des Buches nicht ein einziger Deutscher drin vor. Das ist vielleicht verständlich aus der Warte Tolkiens aus, der ja das Buch als Beitrag zum zweiten Weltkrieg geschrieben hat, ist aber aus der Sicht der Übersetzer doch eine große Schlamperei. Gerade eine Figur wie Aragorn würde sich doch mit einem hübschen deutschen Stammbaum gleich nochmals so gut auf dem Papier ausnehmen. Da wird schon sehr geschlampt überall. Leider kann ich selbst nicht besonders gut aus dem Englischen übersetzen, sonst würde ich schon nachhelfen.
Aber der Tolkien kann hier ohnehin nur vereinzeltes Beispiel für eine ganze Kultur der Schlampigkeit herhalten, die schon Goethe sehr schön in seinem Gedicht über den Besen erfaßt hatte, als eine Überschwemmung, die den Menschen am Ende ganz hilflos läßt. Dabei ist besonders zu beachten, daß die Überschwemmung ja dem Einsatz eines Besens, eines Reinigungsinstrumentes, entwächst, aber davon ein andermal. Hier geht es schließlich um eine Reise und nicht um die Bildung, so wichtig diese auch ist!
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Als der Tag sich schon nach rückwärts verabschiedet und seinen Hut genommen hat, es also recht finster geworden ist und die Grenze nach Deutschland hin schon in greifbare Nähe verrückt wurde, machen wir erneut Halt auf einem kleinen Rastplatz und verzehren die mitgebrachten Nahrungsmittel. Dem Rastplatz beigefügt finden wir eine kleine Brücke, die über einen etwa fünfzig Zentimeter tiefen Graben, in dem aber außer Erde und Gras augenscheinlich nichts aufzufinden ist, zu einem Spielplatz hinführt. Bevor ich aber daran gehen kann, diesen einer näheren Besichtigung zu unterziehen, halte ich es für meine Pflicht, den Graben auf seine Unbedenklichkeit zu überprüfen.
Aber auch nach minutenlangem Bedenken der Lage und eindringlicher Betrachtung des genannten Objektes, des Grabens, komme ich zu keinem Schluß. Vermutlich, so beende ich vorerst die Überlegung, handelt es sich um einen aufgeschütteten Schützengraben aus dem zweiten Weltkrieg, der als Mahnmal so belassen wurde. Leider ist mir aber nicht bekannt, oder in dieser Gegend Frankreichs überhaupt eine Front bestanden hat und weit und breit ist niemand, den man fragen könnte.
Der Spielplatz selbst birgt eine Überraschung: Auf einem Schild, das noch nicht einmal versteckt wurde, steht deutlich lesbar in sogar drei Sprachen hingedruckt, daß der Spielplatz nicht überwacht wird. Das macht mich nun doch sehr mißtrauisch. Will der Franzose uns in Sicherheit wiegen? Denn daß er so freundlich ist, uns die unbeobachtete Situation, die also wie geschaffen zum Ränkeschmieden ist, auch noch eigens darzubieten, kann ich kaum glauben.
Vermutlich ist also der Spielplatz doch überwacht und der Trick des Schildes ist, uns in Sicherheit zu wiegen und so desto brauchbarere Informationen zu gewinnen. Allerdings gibt es dagegen einzuwenden, daß das doch ein wenig zu durchsichtig wäre und also vermutlich auch nicht stimmt.
Schließlich ermittle ich durch Ausschalten des Unmöglichen zweifelsfrei die Lösung: Nämlich ist es so, daß der Franzose uns dazu verführen will, eine Überwachung zunächst nicht anzunehmen, dann Verdacht zu schöpfen, es werde doch überwacht, nun aber zu bemerken, daß dieser Verdacht sehr naheliegt und ihn also als gewollt zu durchschauen und zu enträtseln, daß eben nicht überwacht wird, weil die Geldmittel fehlen und der Geheimdienst uns mit psychologischen Tricks dahin bringen will, zu glauben, es werde doch überwacht. In der Politik nennt man das Abschreckung. So will man uns in Sicherheit wiegen, denn wir haben ja auch diese Finte durchschaut und wissen nun, wir werden nicht überwacht. Deswegen befinden sich natürlich doch Kameras auf dem Spielplatz, von denen ich aber keine entdecken kann. Das beweist aber nur, welche Bedeutung der Geheimdienst diesem Rastplatz zumißt.
Hat so vielleicht auch der Graben eine tiefere Bedeutung? Zu gerne würde ich hier noch weiterforschen, aber die Reise trägt uns weiter, Mülhausen zu.
Die Grenzpassierung verläuft ganz glatt und wenn auch noch nicht Grund besteht, richtiggehend aufzuatmen, so ist doch das Ärgste geschafft. Zwar ist der Franzose sicherlich dreist genug, uns ins ihm fremde Land zu folgen, wird dort aber infolge der wackligen Beschaffenheit der Autobahnen, die extra deshalb so eingerichtet wurde und an die er nicht gewohnt ist, schnell zurückfallen und schließlich an einer einspurigen Stelle an einem Baustellenschild zerschellen. All das kennt er nämlich von Zuhause nicht, weswegen es ihm zum Verhängnis wird. So beschützt uns der deutsche Staat.
Gleich nach Überquerung der Grenze sorgt dann ein schönes blaues Schild dafür, daß man weiß, wo es langgeht, denn es ist schon angeschrieben, wie weit es noch bis Berlin ist und welche Autobahnen man dafür befahren muß. Seit der Widervereinigung ist das ja alles viel einfacher geworden, weil vor allem die Grenze innerhalb der deutschen Zunge fortgefallen ist und man wieder verfahren kann, wie man will. Ein glückliches Volk.
Als ich das vertraute Ruckeln und Wackeln des erwünschten deutschen Bodens dann wieder unter mir stattfinden fühle, spüre ich eine rasche kleine Träne quellen. Die Heimat hat mich wieder.
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Der Blick auf den Tachometer kurz vor Erreichen des endgültigen Zieles belehrt mich, daß wir während des Aufenthaltes im fremden Land stolze 3000 Kilometer zusammengefahren haben! Dreitausend Kilometer durch Ginster und Berge, das ist schon eine Leistung. Vor allem, wenn man hier zurückrechnet auf die Anzahl der verbrauchten Tage, man kommt dann nämlich auf mehr als vierhundert Kilometer pro Tag. Da ist es schon gut, daß das Auto erfunden worden ist, denn zu Fuß wäre eine solche Distanz kaum zu überwinden. Ganz klar wieder einmal, daß es deutsche Männer waren, die das Automobil entwickelten und zur Reife führten, der Franz kriegt sowas eben einfach nicht zustande. Bei dem großen Land, das er ja noch besitzt, ist das schon ein Trauerspiel!
Impressum:
In Wachsen-Viel-Ginster
Ein
Beitrag zur Völkerverständigung
Genista Verlag
Tübingen, 1993
Gebundener Ladenpreis 12,- DM.
Bezug über den Buchhandel oder direkt beim Verlag:
Genista Verlag Kai Schreiber
Fichtenweg 3/701
72076
Tübingen
Manuskripteinsendungen erwünscht!
ISBN 3930171007
Druck: Copy Center, Tübingen
© 1993 by Genista Verlag Tübingen.
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