Verwirrten Sinnes sah K. der Speisekarte ins Gesicht.
Ihm unbegreifliche Dinge waren
dort gelistet sonder Zahl, Bacon, Ham, Eggs in verschiedener Anordnung und
Anzahl, flankiert von
Toast und von Pancakes, von Kaffee und von Tee. Honig. Sirup. Kartoffeln.
In Windeseile hatten Dean und Douglas ihre
Wahl getroffen, und mit einem Gefühl bodenlosen Schwindels starrte K. auf die
Karte. Welches wohlschmeckende Gericht sollte er nur wählen?
Die verschiedenen Möglichkeiten schienen gemeinsam in ein großes, buntes
Karussell einzusteigen und im Kreis zu fahren. Toast und Schinken? Mit Pfannkuchen?
Oder doch lieber mit gebackenen Bohnen und Ei? Und dazu Marmelade? Verzweifelt
verstärkte K. seinen Griff um die Karte und hörte nicht, wie die beiden
Brüder eine hitzige Diskussion begannen. Ei? Oder Schinken? Oder beides?
"Nekton", sagte da Douglas. K. blickte auf, froh um die Abwechslung, zugleich aber
wachsam. Rasend schnell schossen englische Ausdrücke durch sein inneres Mittelohr,
keiner schien zu passen. Nichts Englisches klang wie Nekton. "Net on?" Das war ja
ganz sinnlos. "Night on" nicht minder. Und klang auch ganz anders. "Knacton?" Reiner
Quatsch. "Your order please"?
Auch Unfug, das klang ja nicht einmal wie "Nekton". Das würde vielmehr die
Bedienerin gleich fragen, ihn nämlich fragen, und er wußte immer
noch keine Antwort. Dean aber wußte eine.
"So what's that?"
Oha, nein. Dean wußte eine Frage. Hatte nicht irgendwer gesagt, eine Frage sei
so gut wie eine Antwort, nur interessanter? Und sollte er den Toast mit Schinken oder
besser mit Ei essen? Auch eine gute Frage, aber das unbestimmte Gefühl, daß
ihm zumindest hier die Antwort lieber gewesen wäre, wollte K. nicht
loslassen. Ach, Kuckuck! Er wählte blind eines der fertig zusammengestellten
Frühstückssets, es konnte ja nichts schiefgehen. Zahllose Besucher
hier hatten das betreffende Frühstück schon vor ihm bestellt,
und immer noch stand es auf der Karte droben und konnte bestellt werden.
Also würde er ganz einfach Nummer Drei bestellen. Obwohl es hier Ketchup zum
Speck gab, wie er scharf erspähte. Also vielleicht doch
besser Nummer Vier.
"Nekton", sagte Douglas nun erneut, mit gegenfragendem Unterton. Und
erläuterte bereitwillig die
Unterschiede zwischen Plankton hie und Nekton da, deren eines die im Wasser schwebenden
Lebewesen bezeichnete, während das andere all jene Geschöpfe Gottes
umfaßte, die aktiv, mit eisernem Willen und vermöge der abenteuerlichsten
Fortsätze die sieben Weltmeere durchpflügten. Eine äßerst
wertvolle Information, da waren sich alle schnell einig. Die in mancher Unterhaltung
darüber hinaus mit Gewinn einzusetzen war.
"Are you familiar with the Nekton problem. I'm an expert there, you know." Und jede
Gespräch gehört dem Experten. Ganz allein ihm.
Die Bedienerin blickte kurz drohend in Richtung der Meeresforscher, setzte dann zum
Angriff an, schwenkte jedoch überaschend in die Raucherabteilung ab. Kehrte
zurück. Und begann, Teller zu sortieren. K. vergewisserte sich mit einem
raschen Blick in die Speisekarte seiner Wahl. Die Bedienerin begann eine Unterhaltung
mit einer Kollegin
und blickte dabei aus dem Fenster, wo, dem Namen des Lokales wie zum bösen
Trotz, statt Seeblickes ein Straßenseitenanblick lockte. Häuser.
Endlich wandte sie sich, von Kollegin und Architektur gelangweilt, um. Schnappte
zwei Teller und machte sich erneut auf den Weg zu den Rauchern.
Schnell sei nicht das Wort der Stunde, wo es um die Beschreibung der Qualitäten
der Bedienerin gehe, bemerkte Dean. Auf Englisch. K. verstand kein Wort, nickte
jedoch freundlich
und lachte, weil er sah, daß Douglas das tat. Er kontrollierte ein letztes
Mal seine Wahl. Schwankte. Und entschied sich für eine andere Zusammenstellung
von Leckereien. Mit gebackenen Bohnen. Dafür ohne Ei.
Schließlich gelang es doch noch zu bestellen. K., der versucht hatte,
den Anweisungen der beiden anderen zu folgen, aber gescheitert war, entschied
sich in letzter Sekunde für eine bislang unberücksichtigt gebliebene
Frühstücksvariante und wollte schon erleichtert über die endlich
gemeisterte Hürde die Karte
sinken lassen, als er etwas hörte, das wie eine Frage klang. Die ihm galt.
Unstet wanderte sein Blick durch die Reihen der Sitzenden, auf der Suche nach einer
Hilfe, einem Hinweis. Der Lösung des Rätsels. Natürlich war da
aber rein gar nix.
Die Bitte um Wiederholung der Frage führte zu nichts. "Egglmurblewarbrownget?",
hörte er ungläubig. Das war doch keine Sprache!
Vermutlich galt die Frage
der Beschaffenheit der Spiegeleier, von denen er kaum geahnt hatte, daß er
sie bestellt hatte. Hatte er aber, wie ein kurzer Gegencheck in der Karte ergab.
Abwartend stand die Bedienerin. Kleine Perlen kalten Schweißes
stahlen sich nicht auf K.'s Stirne, denn in einem kühnen Schachzug
rettenden Ausmaßes wiederholte er, was er Dean auf eine ähnlich klingende
Frage kurz zuvor hatte sagen hören. Ein Geräusch ohne Bedeutung für
ihn, eine Welt für die Bedienerin. Rasch rauschte sie ab.
Wenig später ging der bestellte Segen nieder. Douglas erhielt, zusammen
mit einem nicht zu kleinen Fläschchen voller Ahornsirup, einen kleinen Berg
Pfannkuchen. Dean hatte dünnen gebratenen Schinken mit Ei und vor K. stand
ein Teller mit dicken Schinkenscheiben und einem weiteren Ei. Das, bei näherem
Hinsehen, dem auf Deans Teller gar nicht wenig ähnelte. K. erriet
Zusammenhänge. Verstohlen
lächelte ein kleines Döschen gebackener Bohnen durch die Kartoffeln,
die K.s Teller links vom Ei und rund um den Schinken fest in ihrer Gewalt hatten.
Fett war das fürchterliche Werkzeug ihrer Herrschaft.
Frühstück, dachte K., in der neuen Welt. Und schnitt ein Stück
vom Schinken weg, das gar nicht übel schmeckte. Sondern im Gegenteil nach
Schinken selber.
Am Ende, den Teller sauber geleert und die letzte der gebackenen Böhnchen (davon
hätten es, fand K., mehr und von den schwergängigen Kartoffeln die ein
oder andere weniger sein dürfen) beherzt in den Rachen schiebend, horchte K.,
ängstlich und aufmerksam, in sich hinein. Lauschte jeder inneren Stimme.
Und hörte nichts. Stille rumpelte dort drinnen. Und nicht etwas ein wildes
Gluckern. Zum Beispiel. Wie zufällig fiel sein Blick auf das nun leere
Töpfchen mit den Bohnensoßenresten. Noch immer Stille. Hoffnung
blühte. Geld wechselte abrupt den Besitzer.
Draußen auf der Straße nahm
Dean die andere Richtung. Ein Tag bei der Arbeit lag vor ihm. Toronto lag vor
K. und wurde in einem Spaziergang erkundet. Kensington, ein Viertel, in dem
die Mieten erträglich sein sollten, machten einen freundlichen und lebendigen
Eindruck. Zahlreiche Obststandinhaber standen in ihren Ständen und
verkauften Obst. Zu ruinösen Preisen. K. erwog, das Mißgeschick
zur Sprache zu bringen, um so vielleicht die ökonomische Existenz dieser
freundlichen Menschen zu sichern, entschied sich aber dagegen. Weil es halt
so gut schmeckte. Und so billig war. Kensington endete an Spadina Avenue,
gegenüber lachte
Chinatown, oder vielmehr: eine der vier Chinatowns, lachte und machte schmale
Augen und seltsame Zeichen auf seine Fassaden.
K. erinnerte sich an ein Foto, in dem er diese asiatischen Zeichen und diese
Fassaden gesehen hatte, und davor war nicht diese hell beschienene Straße
gewesen, sondern eine Eiswüste, und die Menschen waren nicht langsam
spaziert, sondern schräg geblasen vom eisigen Wind durch die peitschenden
Kristalle gehuscht, kaum zu sehen im Gewirbel. Oder war das auf Yonge Street
gewesen? Und gar nicht hier? Gleich war das Bild weniger drückend. Die
Wärme des Herbsttages drang freundlich wieder durch. Und unten, in Richtung
auf den See hin, den K. noch immer nicht gesehen hatte, ragte der CN Tower weit
hinauf bis in die Stratosphäre mit seinem Glasboden und ein Aufzug schoß
hinauf in den Himmel über der Stadt. Doch es waren keine Menschen drin,
sondern nur Nekton, denn der Turm war zu hoch. Dachte K. Der Idiot.
Dann gingen sie zurück zur Harrison Street und dem kleinen Reihenhaus,
hinter dem K.'s Koffer und Tasche schon warteten. Und in der Tasche vermutlich keine
Überraschung. Jedenfalls keine kleine.
Weiter zu Teil 3.
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