Kapitel 3
9500 Dollar über dem Meer
Teil 1


K. spürte mehr als er es sah, daß er in völliger Dunkelheit erwacht war. Oder genauer gesagt sah er praktisch rein gar nichts. So dunkel war es. Noch rumpelte durch seine Rübe das rauschende Nichts nächtlicher Wirrnis. Ich bin erblindet, dachte K. Ganz plötzlich erblindet. Ein schlimmer Unhold raubte mein Augenlicht, wie er mir die Ahorntasche raubte. Dann, als sein Verstand die letzten Kriechströme der Nacht verebben ließ: Oh nein, ich liege erwachend. Und habe die Augen fest geschlossen. Ich Esel.
Er öffnete die Augen. Nichts geschah. Schloß sie wieder. Dunkelheit.
Das immerhin war verständlich.
öffnete sie wieder. Dunkelheit. Schloß. Unverändert. Wo war er?
Langsam schob sich seine Hand unter der Decke hervor, tastend. Etwas fiel, klappernd.
Das war meine Brille, dachte K. Nicht schlimm, solange es nichts zu sehen gibt. Weiteres Tasten schickte einen der Reiseführer auf die Reise, der Brille hinterdrein. Flappflappbums. Da lag er. Mitten in der schwärzesten Nacht.
Er lag, langsam dämmerte es, im Keller eines kleinen Reihenhauses in Toronto. Und es gab kein Fenster. Und die Türe war geschlossen. Weiteres Tasten fand schließlich den Lichtschalter, und schon einige Minuten später konnte K. durch zusammengekniffene Lider Brille wie Buch vage erkennen und schließlich wieder heimholen.
Über die Treppe vor der Tür schwappte sachte Morgenlicht. Sehr sacht schwappend, dieses kanadische Morgenlicht, dachte K. Fast schon nur sacht tröpfelndes Morgenlicht. Und schlurfte sicherheitshalber die Treppe hinauf, um einen Blick auf den Mikrowellenherd zu werfen. Und stand davor wie festgebacken.

Drei Stunden später, die grüne Mikrowellenuhr zeigte 8:30, machte K. sich auf den Weg zur Universität. Und da ihm wieder einfiel, wie er am Vorabend gedacht hatte, nichts mit dem Jetlag zu schaffen zu haben, fiel ihm auch wieder ein, daß es eine Frage gegeben hatte. Eine wichtige Frage.
Er ging Harrison Street entlang, unter schattigen, ausladenden Bäumen. Oder vielleicht vielmehr eine Frage von minderer Bedeutung, der Wichtigkeit nur beigemessen wurde, weil sie ihm nicht einfallen wollte? Es hatte mit seinem Flug zu tun, ging K. nun leicht bergauf der Hauptstraße zu und durch den Kopf. Als der 27jährige Doktorand aus Deutschland sie beinahe erreicht hatte, schob, lugend scheinbar zunächst und zaghaft, dann jedoch rasch Geschwindigkeit gewinnend und regelrecht anfahrend, die Straßenbahn ihr Näschen um die Hausecke, zwängte sich in die Lücke zwischen den beiden Straßenseiten und verließ K.s Blickfeld auf der anderen Seite wieder. Leer starrte der um eine schnelle Beförderung bitter Betrogene voran.
Oder war es eine wichtige Frage, deren Wichtigkeit mit jedem Moment ihrer Unbeantwortetheit mächtig anschwoll? Wie der Individualverkehr in den Großstädten mächtig anschwoll, wenn keiner die Straßenbahnen benutzte? Was aber menschlich begreiflich und psychologisch gar nicht ungewöhnlich war, räsonnierte K. Wenn nämlich keine Straßenbahn kam, wie sollte sie dann benutzt werden? Und zu welchem Ende? He?
Na eben. Und damit war die Frage mit der wichtigen Frage, K. knackte diese Nuß spielend, gelöst. Oder vielmehr nebensächlich geworden. Wie der Verkehr halt. Und schon bimmelte folglich die nächste Straßenbahn heran. Ganz ohne Fahrplan, K. bemerkte es nicht ohne Verwunderung, verkehrten hier, also in Toronto, die Straßenbahnen. Und auch die Busse verkehrten so. Und schweigen wir ruhigen Gewissens von den Untergrundbahnen, denn wie verkehren auch sie? Ganz recht, sie verkehren ohne Fahrplan. Ohne viel Federlesens. Nach Gutdünken geradezu, K. bedachte es gründlich.
Warum stießen nicht unentwegt, so fragte er sich, hier und dort, hüben wie drüben, hither und thither, U-Bahnen mit Straßenbahnen, Straßenbahnen mit Bussen und diese mit Passagieren und U-Bahnen zusammen? Oder vielmehr: verfehlten einander weit? Wo es doch keinen Fahrplan gab?
Es gab noch so viel zu erlernen.

Ein Zug an der plastikummantelten Schnur, so längs durch die Bahn verlief, signalisierte wie gewünscht dem Fahrer den Haltewunsch. Und also hielt der Fahrer die Bahn an der dafür vorgesehenen Stelle an. K. hingegen tat das seine, trat schwer, doch nicht heftig oder gar hörbar, eine Stufe tiefer in den Ausstieg hinein, dessen Schaltung folgsam reagierte, und die dem von K. gewählten Ausstiegsabschnitt zugehörige Türe gleitend seitwärts faltete. Welche damit keinerlei Problem noch Hindernis mehr darstellte. Ein weiterer Schritt war also ein Leichtes, schnell Getanes. Ein letzter, größerer Abhupf, und K. fand sich, nolens volens, und sine ira et studio auf der Fahrbahn wieder. Direkt vor einem mit Menschen locker befüllten Kleinwagen, dessen Lenker folgsam zu warten hatte, bis die Passagiere ausgestiegen und die Bahn wieder angefahren war. K. verharrte übertrieben lange, Sklave der kruden Ansicht, Autos müsse der Fußgänger behindern, wo es nur gehe. Sie seien nämlich, so K. zu sich, ohnehin immer im Vorteil und hätten die besseren Karten und die höheren Pferdestärken. Da tue ein bisserl Kräfteausgleich nur gut. Fußgänger hört die Hupen!
Nein, es war mitunter schon ziemlich dumm, was einem durch den Kopf ging, wenn man zum ersten Mal in einer neuen Stadt auf einer mittelmäßig belebten Kreuzung stand. Das wenigstens sah K. nun ein. Warme Luft umschlang seine Nase und zwang ihm Hotdogduft hinein. Von einem Hotdogstand nämlich. Dem vielleicht einzigen Hotdogstand in der ganzen Stadt, überlegte K. Der möglicherweise schon morgen witterungsbedingt oder aus persönlichen Gründen geschlossen wurde. Und die weit geöffnete Tür zu einem Hotdog für immer verschloß. K. verzog schmerzlich bewegt das Gesicht. Und zuckte heftig zusammen. Hatte er denn überhaupt seine Unterlagen dabei? In seinen Rucksack gestopft hatte er sie, aber er konnte sich nicht erinnern, den auch mitgenommen zu haben. Zaghaft griff er auf seinen Rücken, wo er, wie ein Geschwür oder eine Verwachsung ragend das Gesack baumelnd fand. Ah! Diese Beruhigung. Also war nur vergessen worden, den Rucksack im Text zu erwähnen. Und er hatte ihn die ganze Zeit dabei gehabt. Oder er war ihm gerade eben erst auf den Leib geschrieben worden, es war ganz einerlei.

Zuerst mußten die Leerräume eines Formulares aufgefüllt werden, wie sich herausstellte. Dann würde alles seine Ordnung haben. Drei Sekretärinnen insgesamt schienen dieser Ansicht, und zufrieden trug K. die drei neuerworbenen Papierstapel davon. Die Krankenversicherung galt es zu bedenken. Und die endgültige Einschreibung war vorzunehmen. Ein Besuch beim Verwalter der mächtigen Gebäudezugangskarten schien unaufschiebbar. Und ein Arbeitsplatz mußte ermittelt und bezogen werden. Arbeitsgerät mußte beschafft und schnellstmöglich mit dem Internet verbunden werden. Nicht zu vergessen, notierte K. im Stillen, mußte die Suche nach einem bewohnbaren Raum aufgenommen und zum guten Ende geführt werden. Die Anmeldung zum Physiologie-Kurs, den K. zu nehmen hatte, dräute dringend. Aber dringender noch, da waren sich Douglas und K. einig, wollte der hungrige Magen gefüllt werden. Man machte sich also auf den Weg.

Die Cafeteria des Gebäudes bestand aus mehreren Ständen, an denen Köchinnen zusehends Mahlzeiten bereiteten. Einer hieß "thai fry", weil an ihm gebratene Gemüse mit japanischen Soßen und chinesischen Nudeln verrührt wurden, über dem Anderen prangte "pasta pronto", folgerichtig wurden dem hungrigen Besucher die gebratenen Gemüse hier unter italienische Nudeln gerührt. Die radiator und bowtie hießen. Zu allem Überfluß konnte zwischen verschiedenen Fleischsorten gewählt werden. Gewürze waren vorhanden. Knoblauch? Auf Wunsch.
Eine völlig neue Mensawelt überrollte K. mit ihrer Verantwortung und ihren Anforderungen. Aber es war zu meistern. Und schließlich wußte er Douglas zur Hand, falls es bei Bestellung oder Anfertigung des Maßessens unklärbare Schwierigkeiten geben sollte.
Es gab aber nicht. Und obwohl es vorzüglich zu schmecken schien, blieb in K.s Styroporschachtel ein nicht unerheblicher Teil der Mahlzeit zurück. Zur Erklärung müssen wir uns K.s Magen vorstellen wie ein Präservativ, das noch neu und unbenutzt ist. Starke Spannung herrscht an seinen Wänden, wo man versucht, es zu füllen. Mächtig wirken die elastischen Wände auf den Inhalt ein. Und pressen ihn beinahe heraus. So also war K.s Magen durch die Erkrankung und den Minderverzehr geschrumpft, und faßte nicht mehr das frühere Maß. Natürlich hinkt der Vergleich ein wenig, denn K.s Magen hat kein Reservoir an seiner Spitze und in ein Präservativ hätte ein noch viel kleinerer Teil dieser Mahlzeit hineingepaßt, auch trotz Reservoir. Aber es ist trotzdem ein guter Vergleich.

Die endgültige Zurkenntnisnahme seiner Anwesenheit seitens der Universität, überlegte K. eine Spur zu umständlich, war ein Ergebnis, das es verdiente, daß man seiner Erlangung die allererste Anstrengung widmete. Er wollte sich also als erstes einschreiben. Dazu mußte, böses Omen, die Rechnungsabteilung aufgesucht werden. K. erwog im Reflex seine finanzielle Lage. Recht wenig kanadisches Geld war, worüber er im Moment vorderhand verfügte. Und über die Hoffnung, von seinem deutschen Konto her an Geldautomaten seine karge Barschaft vergrößern zu können. Und natürlich gleichzeitig den Kontostand auf fraglichem Konto in Deutschland weiter abzusenken. Wie im Reservoir eines Präservativs, dachte K. Etwa 2000 Mark Spielraum, das hatte er messerscharf berechnet, verblieben ihm. Dann war der Dispositionsrahmen leergeschöpft und Gefahr rettungslos im Verzug.
Komplizierte Überlegungen wie diese dauern ihre Zeit, und so kann es uns nicht verwundern, daß K. und Douglas beinahe schon die Rechnungsabteilung erreicht haben. Sie jetzt betreten. Und sich an den freien Schalter stellen. Ein paar Worte werden hier gewechselt, belanglos. Die Angestellte betätigt einige Tasten. Ein Zettel wird eilig bedruckt und übergeben. Und nun sehen wir K. erbleichen. Was steht wohl auf diesem Zettel? Was geschieht als nächstes? Wir sind gespannt.

Weiter zu Teil 2.