Geschichten aus der kanadischen Mildnis |
Guck mal da! Geschichten aus dem Land der Ahornzunge und des Waschbärfettfilters. Und alle echt! ( Zeitreise gefällig?) |
Montag, 19. März 2001 |
Die Straßenbahn rumpelt durch die Nacht, fast leer, und trägt mich
dem Kino entgegen. Eine Neuverfilmung von Dürrenmatts Das Versprechen
wird es sein, mit Jack Nicholson in der Polizistenrolle, ich erinnere mich
an Heinz Rühmann und das Gritli, da stoppt die Straßenbahn auf der
Strecke. Der Fahrer steht auf, wir Fahrgäste gucken, er öffnet die
Tür, noch immer gucken wir, und er verläß die Bahn. Wir gucken. Man sieht ihn gemächlich über die Straße schlendern, und in einer Pizzeria verschwinden. Mitten auf der dunklen Straße steht die Straßenbahn. Gelegentlich fährt ein Auto vorbei. Ich hätte jetzt gerne ein Buch, um ungerührt weiterlesen zu können, so kann ich nur ungerührt weitergucken. Der Fahrer marschiert, sorgfältig Vor- und Nachteile diverser Pizzabeläge abwägend, vor der Pizzatheke auf und ab. Ein Älterer Herr mit grauem Spitzbart räspert sich. Ich wußte nicht, daß es Spitzbärte gibt in Kanada, aber überrascht bin ich auch nicht. Der Fahrer ist nun nicht mehr zu sehen, nur noch seine Beine sieht man durchs Fenster, zwei Säulen vor der Kasse, unbewegt. Dann aber kommt er doch wieder heraus, in Begleitung eines befreundeten Pizzabäckers. Beide besteigen die Straßenbahn, der Fahrer setzt, Spitzbart räspert sich. Der Pizzabäcker wird, derweil die Bahn wieder weiterrumpelt, von einem unscheinbaren Fahrgast in eine Diskussion verwickelt. Er sei also Koch. Backe? Ob er da auch Wasser backe? Der Pizzabäcker bereut sein Einsteigen, der Fahrgast lacht, abgehackt und zu laut, während ich versuche, es nicht zu tun. Das Kino ist erreicht, die Bahn verschwindet um eine Biegung, hinterläßt eine Erinnerung. |
Freitag, 01. Dezember 2000 |
Mehrfach wurde es betont, deutlich ausgesprochen und markig mit den Armen
gewedelt dazu, denn einen Chor aus hundert lauten Akademikern überzeugt
nicht leicht, wer
ein dünnes Stimmchen und eine schmächtige Figur hat. Mich jedoch, den
Sänger mit dem ritterlich für die Schwachen und Benachteiligten schlagenden
Rinderherzen, erreicht die Botschaft sofort: dress rehearsal ist am Freitag vor dem
Konzert, schwarze Hose, weißes Hemd, Krawatte gilt es zu bedenken. Kommt alle! Weder weißes Hemd noch Krawatte freilich zieren den Schrank eines echten Rinds, und so kommt es, daß ich zwei Stunden vorm Genralmanöver, weit vom Saal entfernt, ein Päckchen in Empfang nehme, müde bin ich, aber was da drin ist, weiß ich gleich: ein Hemd ist drin, und zwo Krawatten. Zwei Stunden später weiß ich nicht nur, was im Päckchen drin, sondern auch wo das Päckchen selbst ist: just nämlich wo ich es in Empfang nahm, müde und zerstreut hinlegte und liegenließ. Zerknirscht binde ich die Ersazkrawatte vors grüne Jeanshemd, sehe mich als grellen Farbklecks in indignierter Sängermeute, grünes Hemd, roter Kopf und schief gebundner Binder, die dicke Dirigentin zeigt mit dem Finger, alle lachen. Da lassen mich meine Hosenträger im Stich, das Beinkleid sinkt, und ich stehe da, in rot gepunkteten Gummiunterhosen, prall gefüllten obendrein, weil Peinlichkeiten die sexuellen Stromkreise in meinem Zwischenhirn auf Kurzschluß polen. Wir Wissenschaftler nennen dergleichen eine positive Rückkopplung. So male ich mir den Verlauf des Abends in bunten Farben aus, betrete den Singsaal, und bin der einzige mit Binder weit und breit. Und hier im Saal sowieso. Kein weißes Hemd. Dress rehearsal, so erfahre ich, ist nur so eine Redensart. Und auf kleine Menschen, die wedeln und Unsinn reden, achtet in diesem schönen Land kein Mensch. Da hätte ich mir die Gummihose auch sparen können. |
Sonntag, 26. November 2000 |
Wie sagt man einem Chinesen auf Englisch, daß man auf der Suche nach
zweiadriger Litze ist? In der Manier der alten Meisterforscher gehe ich das
schwierige Problem streng
wissenschaftlich an. Ich kann bereits ausschließen, daß man
nach wire, electrical wire oder power cord zu fragen hat. Und ich bin mir fast
sicher, daß es im chinesischen kein Wort, womöglich nicht einmal
einen Begriff für das gesuchte gibt. Dünne, stromleitende Kabel. Darauf
können nur die Langnasen kommen. Wer braucht sowas, wenn er goldlackierte
Glückskatzen haben kann, in jeder erdenklichen Größe? Für alle Zwecke, für die Glückskatzen sich nicht eignen, verwendet der Chinese Verlängerungskabel. Soweit das Ergebnis meiner Studien. Verlängerungskabel gibt es in allen Längen, Farben und Geschmacksrichtungen. Sogar mit variabler Buchsenzahl. Zum fünftenmal stelle ich das fest, während ich das Werkzeugregal abschreite. Kabelbinder, Audiokabel, Schraubzwingen, Steckschlüssel, Imbusschlüssel. Keine Litze. Und über allem dröhnt ein Radio. Kurz gebe ich die Suche auf, höre hin. Eine Studie, sagt der Moderator, habe kürzlich ergeben, daß die moderne Umwelt zu laut sei. Zu viele Geräsche dringen auf den Zivilisationsmenschen und ihren Mann ein und verwirren ihn. Oder sie. Zum Beispiel Verkehrslärm, Baustellen oder Musik im Aufzug. Wir spielen jetzt den berühmtesten ungarischen Tanz von Brahms. Ich staune ergeben, greife mir einen Chinesen und versuche es ein letztes Mal. Small electrical wire? Like this? Er zeigt mir zweiadrige Litze. Als ich nicke, huscht er davon, ein kleiner Chinese durch den großen Laden, ganz nach hinten, ins Eck, wo sie gut versteckt und sorgsam aufgerollt aufs Abschneiden wartet. Zwei Meter nehme ich, und während sie zurechtgezwickt wird, die Litze, höre ich von fern aus dem Laden den ungarischen Tanz Nummer vier und fühle mich zivilisiert wie selten. |
Donnerstag, 23. November 2000 |
Die gewaschenen Kleider in der Tasche und auf dem Rücken, das angepeilte Essen
schon vor Augen, marschiere ich zügig durch die zugigen Straßen von
Kensington Market, denn es ist finster und kalt. Ein einzelnes Häuschen
hat sich bunt geschmückt mit kleinen Lichterchen, zwei Bäumchen davor verbreiten
sachte die Verkleinerungsform einer Weihnachtsstimmung. Aus den Augenwinkeln bemerke ich im Vorgarten zu meinen Füßen eine Bewegung, ein zerrupfter Hund schlurft vom Haus her, setzt sich auf den Plattenweg und beginnt das Strullen. Auf dem Weg? denke ich, geschickt die Realität hinterfragend. Darf der Hund denn dies? Der Hund wittert die Kritik und knurrt verhalten, läßt es jedoch gleich wieder bleiben. Pullern und Knurren zugleich, das ist zuviel auf einmal fürs Hundehirn. Es konzentriert sich das Tier. Fasziniert beobachte ich das Schauspiel animalischer Überforderung. Ein Schlag ins Gesicht, einer auf den Kopf. Ich bücke mich im Reflex, weiche weiteren Zweigen aus, stolpere über den Bordstein und wedle graziös mit der Kleidertasche. Die frisch gewaschenen Hemden fallen nicht heraus. Lautes Gebell setzt ein, denn der beste Freund des Menschen hat den Kopf wieder frei für seinen Lieblingssport. Das Baumeln der Tasche verebbt wie das Gebell verhallt, während ich zügiger weitergehe, den kalten Wind um die Nase und das Essen vor Augen. Beides gleichzeitig, denn wir Menschen können sowas. |
Dienstag, 21. November 2000 |
Langsame Verschiebung von Rot nach Gelb und Ocker, die Beine nicht mehr ganz so weit gespreizt. Ruhigere Bewegungen. Das Kind vor uns, zu dick, verwöhnt und gelangweilt und von der gutmütigen und selbst gelangweilten Großmutter kaum in Schach zu halten (nicht daß sie sich bemühte), gibt das Ergebnis minutenlangen Nachdenkens laut bekannt: that must be spring. Und es schneit in meinen Gedanken. Jetzt einen Eiswürfel zur Hand, dem lauten, dummen Balg in den Kragen gesteckt und den Affentanz genossen, das Kreischen, das Geschrei. Stattdessen ignoriere ichs, gucke nach vorne, wo der erste Satz von Vivaldis Herbst so richtig beginnt und die anderen tanzen, die in den Kostümen, die ohne Eiswürfel, die Langweiligen. |
Montag, 20. November 2000 |
Die Meinungsverschiedenheiten mit den Untoten sind glücklich beigelegt, die entweihten Kirchen gesäubert und die Monster in die Dunkelheit zurück gejagt - genau der richtige Moment, um durch dieselbe nach Hause zu gehen. Im rot glimmenden Dom über der Stadt blinzeln die Sterne, der Halbmond liegt - Winter naht, und grimmig kalt - auf der Seite und fern auf der leeren Straße rumpelt, unhörbar fast, eine Straßenbahn. Ein erstaunliches Detail der verderbten Welt Diablos ist, daß trotz aller Belanglosigkeit des Erlebten, trotz der Einfachheit der Handlung, eine gewisse trancegleiche Vogelgezwitscher. Es dauert einen Moment, in der kalten Nacht, bis sich aus der Atemwolke vor meinem Gesicht die Gewißheit kristallisiert: ich höre, leise, vielstimmig, Vogelgezwitscher. Wer zwei Ohren hat, der höre woher. Langsam und vorsichtig nähere ich mich der dunklen Baumreihe. Einige, selbst im Halbdunkel der beleuchteten Straße gelbstrahlende Blätter hängen noch an den Zweigen. Und dazwischen, darüber, darunter, schlafen Dutzende von Staren, einige zwitschern leise im Traum. Einer hat mich bemerkt, ich stehe starr, Unruhe breitet sich aus, während leise Warnlaute gezwitscht werden. Langsam ziehe ich mich zurück, und die Vogelschar beruhigt sich wieder (woher weiß ich Mensch, wann ein Star zufrieden im Schlaf zwitscht und wann empöt gestört? Ich weiß es einfach). Spüren die Stare daß es Zeit wäre, gewandert zu sein? Vermissen sie ihr europäisches Zugvögeln? Erinnern sich ihre Gene? Fragen zur falschen Zeit, denn nachts schlafen die Stare doch. |
Mittwoch, 07. November 2000 |
Etwa 20 Grad Temperaturgefälle, über den Daumen, hat der Amerikaner zwischen seine Urlaubsstadt und den Innenraum eines ihrer Supermärkte hineingebaut, und man fragt sich, fröstelnd, weshalb. Dann tritt man ans Tiefkühlregal, die Temperatur fällt noch einmal um 5 Grad, und die Frage verliert ihren Sinn. Es gibt keinen Grund, außer der simplen Rechnung, die die Außenwelt mit dem Fehlen von Zivilisation gleichsetzt und durch Regulierung gegensteuert. Die Natur ist warm? Dann soll es hier drin kalt sein. Man steigt in ein Taxi, ein Hotel, einen Supermarkt. Kalt ist es überall. Im Fahrzeug die Lüftung einzuschalten ist immer ein Kompromiß: die Luft wird besser, aber es wird kalt. Anders geht es nicht. |
Sonntag, 04. November 2000 |
Ich gewöhne mich nicht daran: kaum durch die Schiebetür gegangen haut mich
der feuchte Hitzehammer auf den Kopf. Über meinem Kopf, im schwitzenden Himmel
von Louisiana schlängelt sich, enorm breit und hoch, der Highway an den Mississippi
heran, von dem hinter dem Konferenzzentrum ein turmhoher Dampferschornstein
kündet. Die palmenbestandene Straße entlang soll es ein Restaurant geben,
mit Gumbo, Jambalaya und Alligatorsuppe, allem was das Cajun-Herz begehrt. Nicht
weit, will das Gerücht, gleich am Ende des Zentrums. Wir machen uns auf den Weg, Sonne und Dampf dünsten uns, das Atmen fällt schwer. Die Fassade zieht zäh an uns vorbei, nach einem Kilometer wären wir unruhig geworden, hinderte nicht die Hitze an jeder heftigen Regung. Nach eineinhalb Kilometern nimmt das infernalische Gebäude doch noch ein Ende, keinen hätte es gewundert, hätte es einmal um unsere schöne Erde gereicht und einmal zurück, mit einem Gewirr von Konferenzen auf der ganzen Länge, und einem endlosen tropischen Sommertag vor den Türen. Den Rückweg legen wir im Inneren zurück, unterkühlt, aber luftgetrocknet. |
Samstag, 03. November 2000 |
Das würde ein Deutscher nicht tun, sagt der Mann hinter dem Tresen, und er
sagt es auf Deutsch. Ratlos halte ich ihm trotzdem den VISA waiver hin, auf dem ich
mich - was kann man um 6 Uhr morgens erwarten - verschrieben habe. Den neuen Vordruck
fülle ich mustergültig aus, doch, ach, ich weiß nicht, in welchem
Hotel wir absteigen. Auf Bourbon Street halt. Das reicht nicht! Grimmig guckt der Grenzer,
nächstesmal schlägt, sagen seine Augen, Onkel Sam zu, und ticktack tackert
er dann doch noch die grüne Pappe in den Paß. Ich darf ins gelobte
Land. Später stelle ich fest, daß das Stück Karton oben
übersteht. Warum steht es oben so weit über? Damit man es besser
sehen kann. Auf dem Flughafen in St. Louis dann sehen wir viele dicke Menschen, die zufrieden durch die gekühlten Gänge kugeln, ein munteres Treiben. Mittendrin ein gläserner Käfig, in dem enggepackt Raucher stehen und rauchen. Bitte nicht füttern denkt man, egal wo man hinschaut, hier in Amerika. |
Freitag, 15. September 2000 |
Das Gepäck läßt wie üblich auf sich warten, und weil jeder der
erste sein will und den geringsten Raum zwischen sich und dem langen Kofferband
haben, ist kein Durchkommen und kaum zu sehen, was da an austauschbaren
Businessgepäckstücken durchrutscht. Kein Grund, mehr als nötig
hinzustarren. Die Gepäckwagen werden gegen einen Loonie an einer Edelstahltheke ausgegeben, ein Rad ist in der Theke gefangen. Die Eindollarmünze trägt keinen Premierminister, keinen Franzjosefstrauss, sondern die common loon im Profil. Der Amerikaner sagt schneidig buck, der Kanadier schnucklig Loonie. So ist das eben. Noch kein Koffer. Wenn wenig Gepäckwagen an der Theke stehen, kann man sie vorwärts und rückwärts verschieben, ein Stopper an der einen und der Ausgabeautomat an der anderen Seite verhindern jedoch ein Entnehmen. Außer man wirft einen Loonie ein. Koffer: Fehlanzeige. Eine alte Dame, zittrig und gebeugt, möchte einen der Wagen. Schiebt ihn nach hinten. Der Wagen stöß an den Stopper. Bleibt stehen. Sie sinniert einige Sekunden (mehr Samsonites, einer wie der andere), schiebt den Wagen in die andere Richtung. Hier blockiert der Mechanismus. Weiteres Sinnieren. Unterdessen hat eine weitere alte Dame sich daran gemacht, die Beschriftung des Automaten zu enträtseln (ungefähr zehn blumenbedruckte billige Stoffkoffer werden von einer ungefähr zwanzigköpfigen Familie auf mehrere Gepäckwagen verteilt. Die Nadelstreifen und ihre Hartschalen schieben sich unterdessen durch den Zoll. Der Kofferstrom wird dünner), sie drückt den Geldrückgabeknopf. Kein Gepäckwagen erscheint. Während neben ihr, zunehmend empört, die Wagendame rüttelt und zerrt, kramt die Automatendame in ihrem Täschchen. Sie fischt einen Loonie, wirft ihn ein - die Wagendame bekommt den Wagen frei, wähnt sich endlich erfolgreich und führt die Beute davon, die Automatendame steht ratlos vorm Automaten, wartet auf etwas und weiß nicht worauf. Ich dagegen weiß worauf ich warte, und erfahre schon eine halbe Stunde später von einem unmotivierten Radebrecher im Kostüm, daß mein Koffer grade über den Atlantik reist und bald schon ausgeliefert wird. Morgen schon vielleicht. |