Kai Schreiber

Autor | Neurowissenschaftler | Sänger

Die Reise nach Frankfurt-Niederrad

 

Tübingen. Auf dem Weg zum Bahnhof.

So. D.h. ehe ich anfangen kann, sollte ich wahrscheinlich noch das ein oder andere voraussenden, sonst begreift der Leser ja überhaupt nicht mehr, was vorgeht, schlägt verwirrt die Augen samt Buch wieder zu, und erlebt lieber selbst ein bißchen was, was er dann aber auch wieder nicht versteht usw. usf. - nein, so unvermittelt geht es jedenfalls nicht an, eine Erzählung zu beginnen, deswegen mach ichs wohl besser so:

Alle sagen: der Laden, der Laden! Alle haben mir von ihm erzählt, aber selbst habe ich ihn kein einziges Mal gesehen. Wie viele Male schon (tausende Male) habe ich im Rausch oder danach mit brummendem Schädel die Reise nach Frankfurt angetreten, von Süden nach Norden, aber den Laden habe ich kein einziges Mal gesehen.

So. Nachdem die Rahmen jetzt also abgesteckt sind, kann ich vielleicht anfangen, was zu berichten, und zwar das Folgende: erst gestern wieder bin ich auf dem Weg durch Tübingen beim Waldhorngrill (eine Minute vom Bahnhof) haltlos steckengeblieben, indem nämlich der Inhaber des properen Lokales ein lautstarkes "Hallo" mir über die Straße weg nachkrähte, die ich just in dem Moment ja durchbummelte. Jetzt bist du immerhin schon da, habe ich mir da rasch gesagt, da wäre es doch vielleicht ganz unvernünftig, gleich wieder weiter zu gehen und vielleicht erhebliche und wichtige Geschehnisse zu verpassen -, geh also ruhig und zufrieden dort hinein. Einem Weizenbier habe ich mich also erstmal in den Rachen gestürzt - und schon schaute vielleicht alles viel angenehmer her, strahlender, heller, jedenfalls war aber der nagende Durst verblaßt, der mich vorher unbemerkt behindert hatte, und nicht zu knapp jedenfalls. Gleich stürzte ich dem einsamen Bier also noch ein, zwei Anisschnäpse hinterher und war allerbester Dinge, daß die dreie sich da drunten vertrügen, zumal ihnen dort bis dato noch gar nichts im Wege stand - dafür aber kam ich, während des dritten Schnapses, gleich auch noch mit einem anderen Menschen ins Gespräch, - die Ereignisse überschlugen sich also. Ob ich denn auch verreise nachher, fragte er mit seiner doch schon beachtlich roten Nase an meinen Tisch tretend, und ehe ich noch vage Verneinung brummen konnte, setzte er sich auch schon herzu; er nämlich ja, er verreise ja für den heutigen Tag nach Frankfurt, "in die Metropole" also, sich dergestalt Tübingens für einige ferne schöne Stunden entziehend. Ob ich denn nicht Lust hätte, "nur auf einen Sprung also quasi", mitzumachen, er sei sicher, da gehe doch bestimmt was, ich verstehe schon, auf der Fahrt, blinzelte er zu meinen Gläsern hin, und da ich ja grade ohnehin wenig besseres wußte, sagte ich denn auch, die vermeintliche Gelegenheit blindlings beim Schopfe packend, eilig und hocherfreut zu.

Währenddessen gelangten wir irgendwie beim Rotwein an, ein saures Zeug aus der Region versenkte der Wirt da in unsere Gläser, aber, wie mein Gesprächspartner auch ganz erfrischend notierte, "das hält wach, daß man den Zug nicht noch verpaßt am End, prost." Gar keine Frage hätten wir den Zug aber doch verpaßt, hätte ich nicht irgendwann derart unverwandt und reglos auf die Uhr gestarrt, daß er nun unbedingt nachsehn mußte, was es denn da gab und mich auch gleich am Ärmel packte und wie wild rüttelte und zerrte. "Mein Gott!" schnaubte er sehr lauthals los, "Fast weg! Fast weg! Ojemine" und riß mich aus dem Lokal hinaus auf die offene Straße, wo er einem weiteren "Fast!" lautstark Ausdruck verlieh und stramm davonbrauste.

O schlimme Hast, o du unbedachte Eile, die fast immer in ungutes Chaos hineinführt, oh, diese unselige Hektigkeit, die uns allen den tristen Digitaldoppelpunkt in die verkorksten Biographien einprägt und preßt, oh dies doch wieder sehnsuchtsvolle Ziehn im Herzen, - wovon hat es mehr, das Ziehn, das noch keiner benannte? Wovon hat es mehr? Vom leisen Fernweh oder doch eher noch vom lausigen Nahweh? Und wenn zu gleichen Teilen, wovon ist da im Endeffekt doch mehr: Von Hilflosigkeit oder von Unstetigkeit? Macht nichts, macht nichts, sagte ich mir, es ist bloß wie immer, und egal, wohin Du gehst, es liegt doch immer nur dieser eine Bahnhof auf Deinem verschandelten, nichtsnutzigen Weg, da ist es doch ganz gleichgültig, wohin. Geh nur so, daß sich Deine Beine nicht verknoten, und Du nicht auf den Hosenboden stürzt, schirme Dich vor dem Wind und der Sonne, und geh bloß Deinen kleinen Weg zuende. Du weißt ja doch, wo es hinführn muß: Geh, Kai, geh. Und mach mir keine Schande.

 

Tübingen. Am Bahnhof.

Am Bahnhof angekommen, stellte sich natürlich gleich zuallererst mal zweierlei heraus: daß der Zug nun doch erst in einer Viertelstunde losbrausen sollte, und sodann auch noch, daß Herr Deobald, "Alfred Deobald, wie weicher Theo, haha, angenehm", als der sich der Trinkgeselle mit einer Verbeugung korrekt vorstellte, worauf ich sofort nachzog, mit einem gekonnten Knicks konterte und dabei sogar nur wenig schwankte, daß Herr Deobald also ebenfalls noch keine Fahrkarte sein eigen nannte, worauf wir also sofort losstürmten und jeder für sich den Fahrkartenschalter aufsuchten. Alfred war dabei noch ein bißchen schneller, machte aber großzügig gar kein Aufhebens davon, das sei ja auch peinlich, versicherte er sich rasch rück, wenn man sich selber gar so wichtig nähme, "oder was sagst Du?", was ich in dem speziellen Fall natürlich auch ganz gerne und freudig bejahte. Ich sei ja schon ein prima Kerl, klopfte mir Alfred jetzt leutselig auf die Schulter, er sehe sowas doch gleich, und vollbrachte dabei das Kunststück, zugleich die Fahrkarte zu verlangen, einbeinig hüpfend seine Senkel zu schnüren und alle Rückfragen des Verkäufers noch souverän zu meistern: Ob er also nach Frankfurt wolle, oder was jetzt.

"Geht in Ordnung, jawohl". Das habe er doch eben schon "laut und deutlich" gesagt, wandte er sich leise klagend an mich, "laut und deutlich gesagt", der höre ja wohl nicht recht in seinem komischen Dress da vorne. Erste oder zweite Klasse, sonorte der Beamte nun gleich hinterdrein, und ergänzte aber gleich ein hingeschnurrtes "Zweitevermutlich?" dazu, daß es in mir nur so gewitterte.

"Sowieso." umschiffte Alfred souverän aber auch diese Klippe und schwankte ein bißchen. Unterdessen knatterte die Maschine aber auch schon die Fahrkarte hervor, und das war ja schon ein kleines Wunder, daß da so wie aus dem Nichts plötzlich Buchstaben und Zahlen erschienen --- ich meine, wenn zum Beispiel ein Goethe oder Schiller sowas gesehen hätte, hätten beide doch bestimmt ein ganz anderes Verhältnis zum Schreiben und zur Literatur überhaupt bekommen müssen, - aber es ist natürlich schwer zu sagen, heutzutage, nachgeboren. Aber ich meine auch, daß es nicht ohne Grund keinen Goethe mehr gibt in unserer Zeit, das dürfte ja klar sein.

Unterdessen hatte Deobald auch sein Zahlwerk schon verrichtet und klopfte mir nochmals aufhellend auf die Schulter; er, Alfred, gehe jetzt jedenfall schonmal Getränke einkaufen, "auf die spätere Fahrt hin", und warte dann auf mich am Bahnsteig drüben. Damit ließ er mich zurück.

 

Tübingen - Stuttgart.

Wiedergetroffen haben wir uns dann aber am Bahnsteig nicht, wo alles wild durcheinandersauste und ein einziges langanhaltendes studentisches Geverabschiede veranstaltete, sondern erst im Zug drinnen, wo Alfred schon mal vorausschauend ein ganzes Abteil mit heftigem Beschlag belegt hatte, d.h. die zahllosen Flaschen wahllos auf die Sitze verteilt und den Vorüberkommenden stets offenbar betrübt bedauernd zunickte, nein, alles belegt und besetzt, leider, ja, da sei auch gar nichts zu machen, guter Wille sei ja ersichtlich vorhanden, aber... - kaum hatte ich dann den Sprung geschafft und mich ins Abteil regelrecht hineingeschmissen oder geschleudert, als auch schon wieder in einem großen Durcheinander gleich zweierlei gleichzeitig passierte. Und zwar Alfred Deobald schmiß mit einem gekonnt dahingesagten: "Genau." die Abteiltür zu und zog die Vorhänge vor, und andrerseits der Zug setzte sich brummend und anruckend in seine Bewegung. Während ich noch verwirrt grübelte, wie Deobald das nun wieder hingeteufelt haben mochte, geriet ich zu allem Übel auch noch aufs Schwerste aus meinem mühsam gewahrten Gleichgewicht heraus und in ein Schwanken hinein, daß es ein Graus war, und stürzte aufheulend und wild rudernd in ein Rudel kleiner Sechsämterfläschchen, die einen ganzen Sitz für sich alleine beansprucht hatten und mir nun von hinten arg zusetzten. Leise schimpfend entfernte ich nun mit festen Zug eins ums andere unter meinem Hinterteil und warf sie einer Weinflasche auf dem Sitz gegenüber an den Hals, die darauf mit einem erfreulichen Klingeln antwortete, während Deobald schwer nickend am Fenster über irgendwelchen Problemen brütete und nur fortgesetzt "Ojeoje. Ach nein, ach nein, ojeoje" brummte, zwischen die Laute hinein aber immer wieder an einer dunklen Flasche mit irgendwas drinnen kraftvoll saugte.

Wann er denn den Sechsämter gekauft habe, forderte ich zu erfahren, er zuckte die Achseln; vor oder nach dem Wein, drängte ich vehement in die Lücke, das sei wichtig, oder wann nun eigentlich?

"Genau." lakonisierte er schlagfertig zurück und saugte wieder einen Schluck aus der Flasche heraus. Was das überhaupt sei, das er da trinke, versuchte ich es jetzt andersherum, und ob ich nicht, "in aller Freundschaft sozusagen", schaltete ich listig noch dazu, was abbekommen könne, und prompt streckte er mir auch die Flasche, "Mariacron", hin und griff sich selber die zweite. Schweigend saugten und leckten wir nun beide an den gläsernen Hälsen herum und bekamen unser Teil auch gut ab, wie es ja auch den Grundgedanken der Demokratie entsprechen soll, glaubt man einigen Staatstheoretikern, die andrerseits und hinwiederum aber nicht genug getrunken haben können in ihren trockenen Leben, daß man ihnen sowas glauben wollte. Wie dem auch sei, gelang es uns beiden "Weltreisenden im Dienste einer besseren Welt" - das hatte Alfred gesagt, mir wäre "Humantrinker" besser zu Gesicht gestanden, dachte ich - bis wir Stuttgart erreichten, die Sechsämterfläschchen ganz in ihrem Frieden zu...

 

Stuttgart - Heidelberg.

...belassen und mit dem Mariacron allein zurechtzukommen, der auch wirklich höchst geschmeidig unsre bereitwilligen Kehlen hinuntersauste. Im Hauptbahnhof von Schwabens größter Metropole dann angekommen, der jetzt ja bald nach unterirdisch vergraben werden soll, damit man die Züge nicht mehr so laut vorüberbrausen hört, wenn man anwohnt - oder besser: hineinbrausen, denn es ist ja ein sogenannter Sackbahnhof. Oder, mit Alfred zu sprechen, während ich ihn stützte, ein "Geldsackbahnhof", was er einerseits wohl irgendwie auf den Daimlerstern bezogen wissen wollte, andrerseits aber vermutlich gar nicht so gemeint, vielmehr es ihm ja den Sinn mit Mariacron schon tüchtig zugenebelt hatte. Jedenfalls war der nächste Zug schon besetzt, und wir brauchten lange, um ein, "aus Intimitätsgründen, genau", fast leeres Abteil zu entdecken, d.h. es saß bloß ein junger Kerl drin, der uns erst verdächtig angaffte und dann peinlich beiseit guckte, wir warfen uns nun aufatmend direkt und wie im Flug hinein und legten die Vorhänge vor Tür und Fenster.

"Ich hätte aber gerne hell, meine Herrn", quengelte sofort entfesselt das Bürschchen los.

"Du hast ja noch nichtmal ordentlich Barthaare in der Fresse," blaffte ich ruck-zuck zurück und goß mir jetzt aber endgültig den ersten Sechsämter des Tages hinein, "also halte gefälligst an dich und die eben Erwähnte, sofern du Deutsch verstehst, klar."

Worauf der Knabe erstmal beleidigt ein Gesicht hinzog, daß es einem rechtschaffenen Menschen die eigenen Socken durchschwitzt vor Unlust, sich sowas anzusehen; - da wurde nun aber Alfred plötzlich vom Mitleiden überflutet, wie ein großer Schluck schwappte es über ihn hin und er ergriff ergriffen die Hand des Jünglings und drückte feste zu.

"Kommt jetzt, trink jetzt erstmal auch einen Sechsämter. Wie heißt denn Du jetzt überhaupt erstmal?"

Dinkleymr heiße er, murmelt der unvermittelt in unsere Gesellschaft Hineingezogene nun sichtlich verlegen, Hans mit Vornamen, und trank erstmal die Flasche leer, zur Schule ginge er halt auch noch, "aber nimmer lang, gell", wie er nachdrücklich hinterdreinschob, bloß Abitur wolle er halt schon machen, weil die Gesellschaft schließlich...

"Genau." konterte Alfred herzlich und schob ihm einen zweiten Sechsämter hin, was ich nun schon mit wachsendem Mißfallen beäugte und in einem unauffälligen Moment rasch ein paar der kleinen Fläschchen in meinen Mantel beiseiteschaffte.

Ob er da auch in unserer deutschen Literatur Erfahrungen habe, wollte unvermittelt Alfred jetzt plötzlich wissen, oder ob er da sozusagen noch ein ganz unbelecktes Blatt sei. Er könne es auch ruhig sagen, mit ihm, "dem Alfred", könne man ja reden, freilich, und nachtragend sei er ja auch noch nie gewesen, vielmehr sei er ja in zahlreichen Situationen seiner seligen Frau gegenüber wiederum sehr großzügig gewesen, so und immer weiter verstrickte sich Deobald nur immer tiefer, bis er endlich leiser wurde und den verqueren Monolog mit einem leisen Grunzen und einem tiefen Schluck abbrach, mir dabei noch freundschaftlich die Schulter drückend und zublinzelnd, daß es eine Freude war.

"Nö", tat der Gymnasiast nun kund, "richtig eigentlich" habe er sich auch gar nichts dabei gedacht und "bloß mal so" den Zug bestiegen. "Wohin fahrt ihr denn eigentlich". Mittlerweile war er schon beim...

 

Heidelberg - Mannheim

...dritten Sechsämter angelangt, und wie mir gleich auffiel, zog es den jungen Mann nun mit rasch wachsender Geschwindigkeit immer wieder zu einem neuen Fläschchen, während das, was er sagte, zunehmend dunkler und diffuser wurde.

Überhaupt fände er ja ganz prima, wenn er uns jetzt getroffen habe, daß da also so nette alte Herrschaften, dabei kicherte er leise und wurde sanft rötlich, sozusagen im Abteil bei ihm auftauchten und zu seinem Schaden sei das ja sicherlich, dabei hob er prostend ein Fläschchen empor, letztlich wohl kaum passiert, so daß er, Hand aufs tapfer pochende Herz, nur rundheraus guter Laune sein könne und schluckte hastig.

"Ist er nicht süß, der Hans", knuffte Deobald mich da in die Seite und versetzte mir einen Stich. Wie? Sollte ich da plötzlich von allen Freunden verlassen allein durch dieses kalte Deutschland brausen, keine Heimat, von der her ich käme, kein Ziel, das mir winkte? Sollte dergestalt mein Leben enden, daß ich, von Einsamkeit und Depressionen und Alkohol ganz zernagt und zerfressen, mein düsteres Antlitz gegen Süden kehrte und Lebewohl sagte für immer, mich vielleicht aus dem Zug werfen sollte? Und keiner mir eine Träne oder ein Lied nachweinte? Tief bewegt schnappte ich mir nun nahezu unbemerkt ein Flasche Wein, die beiden schäkerten schon wieder fröhlich um irgendwas herum und soffen dabei in einem fort, und entfernte meine Person aus dem Abteil.

Was nun? Links oder rechts? Einerseits mochte links etwas von Bedeutung lauerliegen, daß ich draufstieße, möglicherweise war es aber auch ganz verkehrt, daß nämlich vielmehr rechts sich einiges abspielte und ich also einen größeren Fehler auf mich nähme, sollte ich nach links gehen. Aber laß nur ab, sagte ich mir dann, denn wenn du deinem Schicksal begegnen sollst, so wirst du ihm schon rechtzeitig und in jedem Fall begegnen, und wenn nicht, nun, auch gut, dann eben nicht. Übrigens war rechts ja außerdem das WC-Schild zu sehn und leuchtete mir eine grüne Einladung daher, der ich auch eilig nach...

 

Mannheim - Frankfurt Hauptbahnhof

...kam und mich erstmal träge auf die Schüssel draufpflanzte und dem Wein eins aufschraubte. Mitten im ersten Schluck aber plötzlich erfolgte ein recht unvermittelter und überraschender Überfall, indem nämlich ganz lautstark von draußen gegen die Türe gebollert und die Klinke gedrückt wurde, jetzt sei aber Aufenthalt im Bahnhof, da sei das Scheißen überhaupt verboten, ob das klar und befolgt sei, dröhnte von draußen eine Stimme herein. Ich begriff mit einemmal gar nichts mehr und sagte dem mir fremden Herrn draußen recht unsanft meine Meinung, ob er nämlich noch bei Trost oder wie oder was, und wie er sich erfrechen, hier nahm ich einen Schluck um die Stimmbänder zu ölen, könne, mir aus heiterem Himmel eine derartige Abreibung zu verpassen, und wußte bereits hier schon nicht mehr, wovon denn nun eigentlich meine Rede war. Verwirrt beschloß ich die Situation mit einem dritten Schluck Wein und stellte zufrieden fest, daß Ruhe eingekehrt war vor der Türe, außerdem der Zug auch bereits wieder an- und weiterfuhr. Rasch trank ich noch einige Happen dieses vielleicht angenehmsten Getränks aus den Trauben, also Früchten unserer Heimat, und füllte sodann die Flasche mit Wasser wieder nach, bis das Gewinde wieder geschlossen war und nichts mehr zu sehen.

Zurück im Abteil traf ich den aufdringlichen Gymnasiasten, den ich sofort mit aller Schärfe ansah, und Deobald in einem erhitzten Gespräch vertieft und plazierte so ganz unbemerkt den Wein zwischen den verbliebenen Sechsämtern.

"Du kannst doch nicht sagen, also behaupten", suchte sich Dinkleymr grade mühsam einen Satz zusammen, "daß einfach so die besten Politiker gleichzeitig..." Hier stockte dem jungen Mann kurz der Atem, bis er mit einem gekonnt herausgeblasenen "bestochen werden." den Satz zu einem grandiosen Finale führte und sich dann durchatmend in den Sitz warf.

Das habe er gar nicht, nie habe er das behauptet, zündete nun Deobald wie eine Rakete auf sein Gegenüber ein, das sei auch unverschämt, "in aller Freundschaft, ja", aber eben doch unverschämt, ihm gegenüber. Er, Alfred, habe einen Freund gehabt, der, "ganz im Vertrauen, gell", und hier klopfte er mir komplizisch zum Abermal auf die Schulter, ich nicht wußte wie mir geschah, zwar oft versucht worden sei, "verstehst, Hans, versucht!", aber niemals etwas angenommen habe, da sei er sich "auf Gedeih und Verderb" gewiß, und dann könne man das ja wohl auch glauben, punktum. Nach so langer Rede holte er nun erstmal tief Atem, um dann mit neuer Kraft nach dem Wein zu langen. Wo denn nun ich mich überhaupt rumgetrieben habe die ganze Zeit. Sie hätten mich schon vermißt, "oder Hans, stimmt doch?"

Der jedoch gab gar keine Antwort, "meditiert", schützte ihn Alfred vor, "das wird schon noch. Jung ist er ja auch noch", und schraubte den Verschluß vom Wein herunter. Der Schaffner sei übrigens auch schon dagewesen, und er habe "für den Hans, den armen Tropf," auch gleich noch bezahlt, weil der doch keine Fahrkarte gehabt usw., und nahm einen tiefen Schluck.

Ein bißchen wäßrig sei der ja schon, der Wein, oder was ich denn meine, und streckte mir die Flasche hin, "da, probier du mal."

Das könne ich ja nun wieder gar nicht finden, im Gegenteil schmecke mir der Wein ja ausnehmend gut. Übrigens fände ich ihn sogar ganz köstlich, worauf Deobald mir die Flasche wieder entriß und verärgert weitertrank. Naja, nun wo ich es sage, brummte er, vielleicht, immerhin.

Da plötzlich kam die Fahrt entscheidend ins Stocken, "Frankfurt", schnaubte Deobald nun plötzlich wieder ganz zufrieden und legte sich zurück, "ich fahr aber weiter."

Was er sich denn nun dabei denke, sprudelte es, ein Auge immer auf dem vorüberpreschenden Fenster, nun hastig aus mir heraus, immerhin sei das doch abgemacht gewesen, "auf Treu und Glauben ausgeliefert" hätte ich mich doch auf ihn verlassen, und jetzt plötzlich passiert einem sowas, das könne doch nicht, unterdessen schon die Bremsen quietschten und der Wagen zum Stehen kam, angehen, daß einer so ein Verhalten an den Tag legte, aber Deobald blieb ganz unerbittlich, er werde, "als Reisebegleiter sozusagen", noch mit dem Hans ein Stück weit fahren, - und übrigens habe man sich ja sowieso sozusagen bloß zufällig getroffen. Froh sein könne ich ja, wenn er mir die Beteiligung am Alkohol erließe, überhaupt, das mit dem Wein sei ihm ja auch schwer verdächtig. Derartig schimpfkanonierte Alfred nun herum, die Augen ganz zugekniffen, um mehr Luft zu bekommen, daß ich mich eilig, wenn auch stark betrübt, auf die Spur machte und mich entfernte.

Frankfurt Hauptbahnhof - Frankfurt Niederrad

Muß es also immer so enden? Gibt es denn keine Treue und kein Vertrauen mehr unter diesem Menschengeschlecht, daß man immerfort so aufeinander eintritt und trampelt wie in meinem Fall? Vielleicht ist dies ja eine graue Welt und vom Teufel ersonnen obendrein, überlegte ich nachdenklich während des Schwankens durch das Bahnhofsgebäude, aber wenn schon, dann muß man bitteschön doch wenigstens ein offenes Herz haben für die Nöte des anderen. Das ist vielleicht vielabverlangt, aber ihr werdet mir doch sicher beipflichten, daß nur der viel verlangt auch noch was abbekommt. In den Schmutz treten uns doch tausend Stiefel jeden Tag von Neuem, da muß man, finde ich selbst, nicht auch noch selber welche tragen, und war unterdessen schon an einem Bus angekommen und hatte unbemerkt den Fahrpreis bezahlt.

Jetzt wiederum alleine, überlegte ich, war vielleicht ja doch gar nicht so schlecht, daß er jetzt weg war, der Deobald, mitsamt seinem Gymnasiasten, und sowieso konnte ich ja jetzt meine Suche noch besser fortführen als wenn ich vielleicht sogar den Hans noch als Klotz am Bein mitschleppen hätte müssen, so gesehen. Der Wind pfeift einem selber ja schon eisig ins Gesicht, da braucht man nicht noch welche, die mitblasen usw.

Wie durch ein Wunder verpaßte ich auch die richtige Haltestelle nicht, stieg also tatsächlich in Frankfurt-Niederrad wieder aus dem Bus heraus und stand nun halbwegs ratlos in der sich verdunkelnden Stadt herum.

 

Frankfurt - Niederrad.

Wenn Du nach links gehen willst - dann geh nach links. Wenn Du nach rechts gehen willst, dann geh nach rechts. Dir kann es egal sein, wohin du gehst. Darum geh am besten gradeaus, wo das Auge hinsieht, flüsterte ich mir zu und ging dann auch tatsächlich los, bemerkte während des Gehens noch ein Fläschchen Sechsämter in meiner linken und eines in meiner rechten Manteltasche. Während ich der beiden erstes aufschraubte und seinen Inhalt in mich entleerte, überlegte ich flüchtig und unsicher, daß es jetzt doch ganz trefflich sei, wenn ich den Laden auch noch fände, den Laden, um dessentwillen ich doch wahrscheinlich unter anderem aufgebrochen war, aber Stunden später auf einer Parkbank heftig atmend sah ich ein, daß das Ende für mich noch nicht gekommen war, und daß ich ihn noch nicht finden konnte, den ANO-Teppichladen. Nein, noch war ich nicht so weit, ganz entschieden nicht. Sodann verlor ich das Bewußtsein und erhielt es am anderen Morgen wie erwartet fast neu zurück. Alles ging weiter.