Die Reise zu Cotta
Im Halbdunkel des beginnenden Tages rumpelte eine klapprige Kutsche
den Weg zum Lustnauer Tor hinauf, auf dem Bock ein kleines,
gebücktes Männlein mit verwittertem Gesicht und
schäbiger Kleidung, und auf der Rückseite ein
Messingschild: "Wenn Du das lesen kannst, bist Du ein Pferd". Die
mit glitzerndem Metall beschlagenen Räder waren kaum zum
Stillstand gekommen, da hüpfte auch schon der Gnom vom Bock,
wieselte nach hinten und öffnete den Verschlag mit einer
Verbeugung, die ihn noch ein Stück kleiner machte, als er
ohnedies schon war.
Zögernd schob sich ein mit bunten
Sportschuhen bewehrter Fuß ins Freie, das zugehörige Bein
steckte in einer Hose aus dehnbarem Stoff, mit zwei farbigen
Streifen längs der Außennaht und zahlreichen Flicken.
Quälend langsam erschien das zweite Bein, dann endlich der in
ein bunt bemaltes Hemd gehüllte Oberkörper, und
schließlich ein bizarrer Schädel, aus dem eine gewaltige
Nase wie ein Bollwerk hervorstand. Die Haare trug der
Ankömmling vorne auf die Länge eines kleinen Fingers
gestutzt, während sie ihm rückwärtig prächtig
und fettverklebt bis weit in den Nacken hinabfielen. Mehr still
gebannt als erstaunt oder aufmerksam betrachteten das seltsame
Schauspiel zwei Weinbauern, die zum Fassen der Trauben bereiten
Kiepen auf den gebeugten Rücken, und blickten einander zuweilen
ratlos in Augen.
"Endlich da, blöder Sack. Wird ja
wohl auch Zeit.", motzte Riesennase und rümpfte dieselbe gleich
darauf. "Puh, hier stinkts ja gottserbärmlich. Der Schwabe
scheißt wohl recht laut", rief er provozierend und lachte
gleich darauf anhaltend über seinen gelungenen Scherz.
"Hä-hä,
scheißt sehr laut", wiederholte er noch einmal und klopfte dem
Kutscher jovial auf den Rücken. "Und in dem Dreckloch wohn ich
wohl?" fragte er, und ging dann ohne Antwort abzuwarten, zur
Tür. "Ficken", sagte er vernehmlich und trat ein, während
der Kutscher schmerzlich die Miene verzog und sich daran machte, das
Gepäck auszuladen.
"Wa ischn des fir oiner?" fragte
ratlos der eine Weinbauer den anderen. "Wa hotn der fir Schua oh?
Dia gibts doch no gar ned"
"Desch dr Geethe", erwiderte der
andere gedehnt, "der ischd älleweil seiner Zeit weit voraus
gwä."
Die beiden verharrten einen Moment schweigend,
während der Kutscher keuchend die Köffer Goethes in die
"goldene Traube" trug, dann sagte der erste mit einer wegwerfenden
Handbewegung: "Der moint halt au, er wär dr Käs, derwelsch
stenkt r bloß."
Und lachend gingen die beiden braven
Weinbauern davon.
Als der geheime Rat in den finsteren Hausflur getreten war, sah er
zunächst überhaupt nichts.
"He!" brüllte der
Dichter, doch nichts geschah.
"Idioten", grunzte er, fuhr
sich mit der Hand durch die Haare und machte ein paar Schritte in
die Finsternis hinein.
"Hey", wiederholte er etwas lauter,
und fügte nach einer kleinen Pause ein wohldosiertes "ihr
schimmligen Kackeimer" hinzu, denn er wußte um die Fixierung
der Einheimischen auf die Latrine.
Von Ferne näherte
sich nunmehr ein flackerndes Licht, das vor einem erschrockenen
Gesicht hergetragen wurde, aus dem es gleich besorgt herausfragte:
"Bitte um Vergebung, werter Herr. Mit wem han ich das
Vergnügen?"
"Das Vergnügen werden wir schon
sehen, du Sackpfeife", bellte Goethe giftig, "Ich bins, Goethe,
nicht deinesgleichen. Ich will sofort auf mein Zimmer und dann was
Gelenkiges zum Aufwärmen, aber dalli."
Das Gesicht
hinter der Kerze wurde ein wenig länger und schmaler, und nahm
einen beinahe ehrerbietigen Ausdruck an.
"Ja was! Der Herr
Geheimrat selber!" hauchte das Gesicht und zückte aus einer
unbegreiflichen Falte seiner Kleidung ein kleines Buch. "Wir haben
sie schon sehnlichst erwartet, Herr Geheimrat. Wenn Sie mir nur
vielleicht, eh sie auf Ihr ehrenwertes Zimmer gangen, hier einen
Namen hineinschreiben täten, ins Buch. Das wär sehr
freundlich."
Der Herr Geheimrat hatte während des
ganzen Sermons mit einer dunklen Mischung aus Spott, geschmeichelter
Eitelkeit und Ungeduld auf das Gesicht hinabgeschaut und ergriff nun
mit allen Zeichen zufriedener Sattheit den Griffel, während er
schon erwog, wie er den armen Kerl gleich zur Sau machen werde.
Doch
zunächst drehte er den Titel des ihm zur Signierung gereichten
Bandes ins Licht und starrte blöde und verblüfft auf die
Buchstaben.
"Der Zauberlehrling?", blökte er
verständnislos. "Was soll denn der Scheiß? Das ist
überhaupt nicht von mir, du Hundeschiß."
Wutentbrannt
giftete er den Gastwirt an, der mit einemmal gar nichts mehr
begriff, und hätte ihn wohl auf der Stelle zu einem
Häufchen rauchender Asche niedergeschmäht, wäre nicht
der Kutscher in dem Moment ächzend zur Türe
hereinmarschiert, und, mit einem Bilck die Lage begreifend, eiligst
schlichtend dazwischengetreten.
Aus fast geschlossenen
Zähnen zischte er etwas von früher Morgenstunde, langer
Fahrt, Vokuhila und Denkvermögen und drängte den erbosten
und wild gestikulierenden geheimen Rat die Treppe ins
Obergeschoß hinauf. Der ließ sich zwar willig
abführen, schimpfte aber auf dem ganzen Weg bis in sein Zimmer
aufs Unflätigste die dunklen Stufen hinab, doch ins Leere, denn
der arme Wirt hatte sich längst in seinen Grundfesten
erschüttert in seine Stube verkrochen und starrte auf das
schöne Bändchen in seiner Hand, seinen ganzen Stolz, der
nun so plötzlich entwertet schien.
"Walle walle",
gluckerte er ratlos, dann brach er in Tränen aus.
Das
Zimmer, in dem der Geheimrat von seinem Kutscher schließlich
abgeladen wurde, hatte ein winziges Fenster, das auf die
Straße hinausblickte, über die sie gekommen waren, und
auch jetzt sah der noch immer erboste Goethe eine Kutsche fern aus
Lustnau heranrumpeln und sich dem Stadttor nähern. Und für
einen Moment war ihm, als säße in der Kutsche er selbst
und doch nicht er selbst, und auf dem Bock oben sein Kutscher, der
doch eben erst zur Türe hinausgegangen war, doch dann war der
ganze Spuk auch schon vorbei und Goethe rieb sich die Augen.
"Zuviel
gesoffen", dachte er belustigt, "kommt davon", und zuckte
erschrocken zusammen, als eine gewichtige, strenge Stimme wie als
Echo seiner Gedanken ertönte.
"Du warst schon immer
ein wenig ungläubig, Albaris", klang es aus einem finsteren
Winkel des Raumes. "Würdest Du ein wenig mehr auf Dinge wie
diese Kutsche achten und ein bisserl weniger saufen, dann
müßte ich vielleicht nicht hiersein."
In dem
Winkel bewegte sich ein Schatten, eine Person erhob sich und
seufzte.
"Ist das nicht spaßig, Wolfgang, daß
ich extra aus Gotha hierher kommen muß, um mich mit einem
Goethe herumzuärgern, oder einem Albaris?"
Goethe
stand wie gebannt, starrte auf den Schatten, und man sah
förmlich, wie sich in seinem Kopf die Gedanken jagten.
"Adam?"
fragte er schließlich zaghaft und wie von schlechtem Gewissen
übertäubt, und die Gestalt raschelte ein bißchen,
als lachte sie stumm.
"Natürlich, Albaris. Wer denn
sonst."
"Nenn mich nicht so", sagte Goethe trotzig, doch
Adam schien den Einwurf zu überhören.
"Du machst
uns große Sorgen, Albaris. Sehr große Sorgen sogar."
Albaris
wandte sich wieder ab, starrte zum Fenster hinaus und schwieg.
"Du
schweigst", sagte Adam schlau, "und das ist klug von dir. Du
erinnerst dich ja sicher, was üblicherweise passiert, wenn du
nicht schweigst? Wie du damals beispielsweise Schiller eine
Hormonschwuchtel genannt hast? Oder Gotthold einen schwanzlosen
Religionsschwachkopf? Der arme Kerl wär beinahe gestorben."
"Das
ist jetzt zwanzig Jahre her, Adam", versuchte Albaris eine
halbherzige Ausflucht, "und außerdem stimmt es doch wohl."
"Das
tut nichts zur Sache. Was glaubst du, wer deine ganzen Scharten
wieder auswetzen muß? Wir hatten ein Abkommen, Albaris,
getroffen bei deinem Eintritt in unseren Kreis. Du solltest unserer
Sache dienen und dafür von uns eine einflußreiche
Position erhalten. Und unserer Sache zu dienen, Albaris, bedeutete,
auf die Unflätereien zu verzichten, und ehrenwert und
wohlfällig zu dichten. Und was tust du stattdessen?"
"Ich
schreibe", bellte Albaris trotzig dazwischen, "oder etwa nicht?"
"Oh,
natürlich schreibst du. Soll ich zitieren? 'Gedicht an mein
Geschlecht. Du bist so groß als wie ein Specht. Das ist mir
durchaus recht.' So hatten wir uns das nicht vorgestellt, Albaris.
Wir dachten an hehre Werke, die die Nachwelt einschüchtern und
uns gefügig machen sollten. An Monumentales, das das
Selbstbewußtsein von Generationen von Menschen dämpfen
sollte. Über diesen Mist lachen ja nichtmal die Hühner.
Soll ich noch eins zitieren?"
Albaris winkte kraftlos ab,
doch Adam fuhr unerbittlich fort.
"Aphorismus: Es spricht
der Christ: Ein gutes Rohr ist leicht verlegt, noch eh die Glocke
dreizehn schlägt, da spricht der Jud: ein so ein Mist, ich sag
ja: dumm fickt gut."
"Ich kanns halt nicht besser", brummte
Albaris, "ich war schließlich freiberuflicher Ochsenziemer,
als ihr mich geworben habt, das weißt ja wohl noch."
"Geworben
ist gut, mein Lieber. Du bist doch auf Knien durch Ingolstadt
gerutscht und hast jeden nach dem geheimen bayrischen
Illuminatenorden gefragt, bis wir dich dann aus dem Verkehr gezogen
haben. Und das werden wir übrigens auch jetzt wieder tun,
bloß ein wenig gründlicher als damals."
Der
Schatten ragte nun bedrohlich auf, schien den ganzen Raum zu
erfüllen und dann zum Nebel zu zerfließen. Albaris wurde
einen Moment ein wenig schwindlig.
"Das könnt ihr
nicht", sagte er schwach, "dazu bin ich schon zu mächtig. Ihr
braucht mich." Eine diffuse Übelkeit stieg im Körper des
Dichters auf und wölbte seinen Brustkorb weit hervor. Albaris
hielt den Atem an.
"Irrtum, mein Bester. Wir brauchen
Johann Wolfgang Goethe, einen würdigen, eindrucksvollen,
geistreichen Schriftsteller und Politiker, nicht dich. Schau dich
doch an, wie du aussiehst, wie du rumläufst. Wie du dich
benimmst. Du bist nichts als eine Last für uns. All die
Bücher, die wir für dich schreiben ließen, und die
unter deinem Namen durch die Welt geistern. Ach, es ist eine Last."
Nach diesem Ausruf entstand eine kleine Pause, in der Adam
sich zu besinnen schien und aus Albaris pfeifend die Luft entwich,
dann sprach Adam rasch weiter.
"Kurz und gut: du wirst
diesen Gasthof nicht verlassen, jedenfalls nicht als der, der ihn
betreten hat. Wir Illuminaten haben dir deinen Namen gemacht, nun
nehmen wir ihn dir wieder. Du bist nicht würdig, ein Goethe zu
sein."
Albaris wandte sich abrupt vom Fenster ab und ging
auf den Schatten zu, hielt jedoch auf halbem Weg inne.
"Das
könnt ihr nicht machen", sagte er noch einmal schwach, doch
Adam war schon auf dem Weg zur Tür. "Du warst damals ein
erbärmlicher, stinkender Mistfink", sagte er, ehe er sie von
außen schloß, "und das wirst du wieder sein. Wir lassen
uns den Großen Goethe-Plan doch von dir nicht zerstören."
Und in just dem Moment, in dem Adam die Tür des
Zimmers schloß, rumpelte die Kutsche, die Albaris vom Fenster
aus hatte näherkommen sehen, am Gasthof vorbei und durch das
Tor in die Stadt, wo der Verleger Cotta schon auf seinen Gast, den
großen Dichter Goethe wartete und ein Bändchen des
Zauberlehrlings bereithielt, das der gewandte Herr gerne signieren
würde.
Adam ging unterdessen die dunklen Stufen des
Gasthofes hinab, rief mit sanfter Stimme nach dem Wirt, bekundete
seinen Wunsch, die Rechnung zu begleichen ("Jawohl, Herr Weishaupt")
und sagte, als er die "goldene Traube" verließ, wie
beiläufig: "Ach und, der Herr Pustkuchen, der bleibt für
ein paar Tage, denke ich. Geben Sie acht, er hält sich
bisweilen für den großen Goethe. Lachhaft, finden sie
nicht auch?"
Und der Wirt beeilte sich, zustimmend zu
brummen, und spürte ein Hoffnungsflämmlein zart erglimmen,
und als Weishaupt dann noch sagte: "Ich denke, Goethe wird noch
einmal in Tübingen wohnen wollen, und ich könnte mir gut
vorstellen, daß er dann bei ihnen absteigt, und etwas
signiert", da war die Seelenruhe des Wirtes der "goldenen Traube"
völlig wiederhergestellt.
Weishaupt aber trat durch
die Tür ins Freie und war nach kurzer Zeit verschwunden.