Am Morgen des ersten September besteigen zwei Menschen in Toronto den
Bus, der sie fort aus der großen Stadt und in die kanadische Wildnis
bringen soll. Die zwei, nennen wir sie Genista und Frau H, scheinen für
dieses Abenteuer gut gerüstet zu sein. Beide tragen graue Trekkinghosen aus
nahezu unzerreißbarem Gewebe (Polyester), dazu atmungstaktive High-Tech-
Trekking-T-Shirts in schwarz (Genista) und himmelblau (Frau H) aus dem
Wundermaterial Polyester, an den Gürteln Schweizer Messer Modell "Outrider
Lockblade" (der Herr) beziehungsweise "Huntsman" (die Dame). In Frau Hs
Hosentasche klimpert eine Bear Bell, eine Art Narrenschelle an einem
Klettverschlussband, die unliebsamen Begegnungen in den Wäldern vorbeugen
soll. In den Wanderstiefeln, für den flüchtigen Beobachter nicht
sichtbar, verbergen sich flauschige Merinosocken der Marke "Wigwam". Der nicht
unerhebliche Rest der Ausrüstung befindet sich nun, da der Bus langsam aus
der Station schaukelt und in nördlicher Richtung auf University Avenue
einbiegt, im Laderaum, verpackt in zwei große Plastiktüten mit dem
Aufdruck "Mountain Equipment Co-Op".
Mit Plastktüten in die Wildnis? Frau H, Genista, habt ihr euch das auch
gut überlegt? Auf den Gesichtern der beiden ist jedenfalls kein Anflug von
Beunruhigung zu erkennen. Sie sehen aus dem Fenster, an dem jetzt Toronto
vorbeizieht, blitzblank in der Sonne eines strahlenden Frühherbstmorgens. Links
das rosa Sandsteinmassiv des Parlaments von Ontario, dahinter Queen’s Park im
goldenen Sonnenlicht, dann geht es bergan, das ehemalige Seeufer hoch, vorbei an
noblen Apartmenthäusern und schmucken Villen im Tudorstil. Dann wird die
Bebauung allmählich schäbiger, der Bus passiert Vorstadtstraßen, gesäumt von
schiefen Telegrafenmasten und einstöckigen Backsteinhäusern der
Jahrhundertwende, unten die Läden, oben die winzigen Wohnungen. Schließlich hält
er im betonierten Niemandsland an einer riesigen Mall mit dem irreführend
idyllischen Namen Yorkdale. Hier könnte man noch aussteigen und mit der U-Bahn
zurück in die Stadt fahren, nein, zu spät, es geht schon wieder weiter.
Der Bus fährt jetzt auf der Autobahn nach Norden. Frau H, die in den zehn
Monaten ihres Kanadaufenthalts Toronto nie wirklich verlassen hat, klebt gierig
an der Fensterscheibe. Sie sieht billige Bürogebäude, All-You-Can-Eat-Schuppen,
Möbelhäuser, Toys’R’Us, Wendy’s, Mc Donald’s, hier und da einen Golfplatz. Es
will kein Ende nehmen. Nach einer Dreiviertelstunde ändert sich das Bild
allmählich, die Abstände zwischen den Gewerbebaracken werden größer, dazwischen
struppiges Grasland, Coyotenrevier. Und Trabantendörfer, kleine, von hohen
Mauern umfriedete Ansammlungen von Einfamilienhäusern, die allesamt gleich
aussehen. Erbaut in einem Stil, dem man vage als "europäisch-viktorianisch"
bezeichen könnte, jedoch seltsam unproportioniert, wahllos mit Erkern und
Seitenflügeln und Anbauten versehen. Und jedesmal sind einige dieser Häuser noch
im Rohbauzustand, und man sieht, dass sie in Wirklichkeit gar nicht aus
Backstein erbaut sind, wie die Fassaden suggerieren, sondern aus
Sperrholzplatten.
Frau H war einmal in einem dieser Häuser zu Gast. Es hatte ein riesiges
Kellergeschoß (Fitnessraum, Wirtschaftsraum, Bad, diverse andere Zimmer unklarer
Bestimmung), eine monströse Eingangshalle mit Scarlett O’Hara-Freitreppe, fünf
Zimmer und eine riesige Küche im Erdgeschoß, dazu vier Schlafzimmer und zwei
Bäder im Obergeschoß. Bewohnt wurde dieses Haus von einem älteren Ehepaar. Die
einzige Tochter studierte und war vor Jahren ausgezogen. Sie nutzte den Umstand,
dass die Eltern verreist waren, um zehn Freunde zum Thanksgiving-Dinner
einzuladen und auch gleich über Nacht zu beherbergen. Ihre Eltern sind keine
Multimillionäre, und das Haus war nur eines von hunderten ähnlicher in der
kleinen Trabantensiedlung knapp ausserhalb von Toronto. Es ist nur einfach so,
dass es in Kanada zwei Dinge im Überfluss gibt: Platz. Und Bäume.
Beides sehen Genista und Frau H jetzt mit eigenen Augen, denn nun sind
auch die hässlichen Siedlungen verschwunden, sie haben vereinzelten Farmen Platz
gemacht (und vereinzelt bedeutet vereinzelt), dazwischen Wälder, die so
aussehen, als würden sie vollkommen sich selbst überlassen. Tote Bäume fallen um
und bleiben liegen. Gruppen weisser Baumskelette ragen hie und da aus dem Wald,
sie stehen in schilfgesäumten Tümpeln. Biberwerk? Die Farmen sehen putzig aus,
sie haben tatsächlich diese amerikanischen Farmdächer, oben gewölbt-
spitzgieblig, dann ein Knick und zwei steile Schwünge nach aussen. Manche sind
sogar rot gestrichen. Eigentlich fehlen nur ein Tornado, ein kleines Mädchen im
blauen Kleid mit roten Schuhen und eine lebendige Vogelscheuche, um das Bild
abzurunden.
Dann aber taucht links eine Scheune auf, an der steht in geschwungenen
weissen Lettern: "The Lazy Farmer. Trading Post. Antiques". Und wenige Meilen
weiter sieht man bunte Hütten durch die Bäume, aha, "Camp Hillybilly". Und
plötzlich sind sie da, zu beiden Seiten des Highways, der längst nur noch
zweispurig ist: Die rosa Granitfelsen des kanadischen Schildes, abgeschliffen
von den Gletschern der letzten Eiszeit, 550 Millionen Jahre alt und damit das
älteste Gestein der Welt. Wir sind in Muskoka,
"Land of Lakes" (Eigenwerbung) oder "Cottage Country" (kanadischer Volksmund).
Hier hat die Oberschicht von Toronto ihre Ferienhäuser, in die sie flieht, wenn
ihr das Stadtleben zwischen Bay-Street-Büro und der Villa in Rosedale zu
anstrengend wird, aber auch für die anderen ist gesorgt, vom Luxusresort bis zum
Campingplatz gibt es hier alles, auf einer Fläche, die so groß ist wie "a small
European country" (Eigenwerbung).
Die "Trading Posts" werden zahlreicher, hielte der Bus, könnten Frau H
und Genista beispielsweise Mokassins und Native Art kaufen, oder "Worms,
Firewood, Ice", die auf einem Schild am Straßenrand angepriesen werden. Wie die
Dinge liegen, müssen sie sich mit je einem Thunfischsandwich und heisser
Schokolade begnügen, in dem winzigen, altmodischen Dorfbahnhofsdiner, in dem der
Busfahrer nach zweieinhalbstündiger Fahrt seine hausgemachte Gulaschsuppe
löffelt. Nach einer weiteren Dreiviertelstunde erreichen sie Huntsville, einen
kleinen Touristenort, wo sie den Bus verlassen und mit ihren Tüten in eines der
wartenden Taxis steigen.
So gelangen sie in einer halben Stunde auf dem Highway 60, der weiter
nördlich den Algonquin-Nationalpark in zwei Teile zerschneidet, ans Ufer des
Oxtongue River. Dort, umgeben von Wald, befindet sich ein Außenposten der Algonquin
Outfitters, eine große Blockhütte, vorne ein Laden, hinten Lagerräume. An
den Seitenwänden lehnen bunt marmorierte Kajaks, am Waldrand stehen Gestelle mit
Reihen von Kanus, hinterm Haus trocknen Schlafsäcke und Zelte auf langen
Wäscheleinen.
Am Giebel des Haupteingangs, den Genista und Frau H nun durchschreiten,
hängt ein sonnengebleichtes Elchgeweih. Drinnen hat man sie schon erwartet und
führt sie in eines der Hinterzimmer. Dort stehen drei riesige, lange Tische. Auf
einem davon liegt Campingausrüstung sowie, säuberlich aufgereiht, Tüten über
Tüten mit Lebensmitteln, etikettiert nach Tagen. Hinter dem Tisch steht ein
blondes Geschöpf mit leerem Kuhblick, nennen wir es Mandy. Mandy soll H und
Genista die Tücken der Ausrüstung sowie die Zubereitung der Expeditionsnahrung
erläutern. Glücklicherweise taucht in dem Moment John auf, der sie eigentlich in die
Feinheiten des Paddelns einweihen soll, und übernimmt Mandys Job, damit sie sich
wieder in Ruhe dem dumpfen Starren widmen kann. John ist wirklich sehr nett, er
beantwortet geduldig alle Fragen, auch die nach Bären, Bären und Bären. Ja, man
könne ruhig in der Kleidung schlafen, in der man gekocht habe, entsprechende
Warnungen seien übertrieben. Es sei aber wichtig, den Verpflegungsrucksack
über Nacht aufzuhängen, mindestens drei Meter hoch und zwei Meter vom Baumstamm
entfernt. Die Gefahr, sogenannten Campingplatzbären zu begegnen, sei an den
Rändern des Parks größer als im Parkinneren, wo die Bären nicht so viel
Gelegenheit hätten, sich an Menschen zu gewöhnen und sie mit leicht erreichbaren
Futterquellen in Verbindung zu bringen. Und das Paar aus Toronto, das im Juni
auf einer Insel im Park von einem Schwarzbären attackiert wurde? Drew erzählt, er habe mit den
Parkrangern gesprochen, die nach dem Vorfall den Campingplatz inspiziert hätten,
es habe überall Essbares herumgelegen, da müsse man sich ja nicht wundern. Im
Übrigen habe er in den zweihundert Tagen, die er insgesamt im Park verbracht
habe, noch nie einen Bären gesehen.
Nun wird die Ausrüstung in zwei riesige Expeditionsrucksäcke gepackt, die
neben dem Tisch bereitstehen. Hie Vorräte und Kochutensilien, dort Zelt,
Schlafsäcke und der Inhalt der H-und-Genistatüten, umgepackt in zwei Lagen
schwarzer Müllsäcke, wie die anderen Bestandteile der Ausrüstung, und sorgfältig
zugeknotet. Frau H versucht, den Vorratsrucksack anzuheben und scheitert. Als
John draußen demonstriert, wie man ein Kanu sachgerecht auf die Schultern
wuchtet, um es auf den Schleppetappen, den Portagen, durch den Wald zu
transportieren, überlässt sie Genista die praktische Umsetzung des
Gelernten. Danach geht es zum Probepaddeln auf dem Oxtongue River. Die wenigen
Paddelmanöver lernen sich leicht, John kann Feierabend machen, seine Schützlinge
paddeln an beachtlichen Feriendomizilen vorbei, bis sie in ein Sumpfgebiet
gelangen, in dem es vor lauter Wasserlilien und Seerosen nicht mehr weitergeht.
Nach der Rückkehr beziehen sie eines von zehn Gemeinschaftszelten am Flußufer,
die jetzt, nach Ende der Hauptsaison, alle leer stehen.
In einer Lodge jenseits des Flusses stärken sie sich noch einmal mit
einem richtigen Essen, es ist Sonntag, da gibt es Turkey-Dinner, Truthahn mit
viel Füllung, Sauce, Kartoffel- und Kürbispüree und Cranberrykompott, gerade so,
wie es das Pensionärspublikum, das hier Urlaub macht, gerne hat. "How
aaaaaaaaaare youuuu", flötet die Inhaberin, sie wirkt wie eine Pflegerin für
verwirrte Greise in einem sehr exklusiven Seniorenstift, was sie ja
gewissermaßen auch ist. Frau H und Genista stochern in ihrer Henkersmahlzeit,
während sich vor dem Fenster ein Streifenhörnchen in einem grotesken Manöver
eine der bereitliegenden Erdnüsse in die Backentasche praktiziert. Zwei
Beruhigungsbiere später machen Genista und H sich auf den Rückweg. Sie legen
sich noch ein wenig auf den Bootssteg vor ihrem Zelt und schauen sich die Sterne
an, es ist Neumond, keine Stadt ist in der Nähe, der Himmel ist samtschwarz und
über und über gesprenkelt. Sie sehen Satelliten und eine Sternschnuppe. Die
Sterne spiegeln sich im Fluss.
Gegen 22 Uhr beziehen sie ihr Zelt. Es ist um eine Plattform herumgebaut,
mit einer umlaufenden, niedrigen Barriere aus Holz, vorne eine kleine Tür, die
Frau H nun sorgfältig verriegelt. Außerdem schließt sie die schwere Zeltklappe
und knotet die Verschlussbänder fest zu. Dann schiebt sie ihr Feldbett neben
das von Genista, auch wenn das bedeutet, dass sie mit den Füßen an der
Türöffnung liegen muss. "Wenn wir irgendwo riskieren, einem Bären zu begegnen,
dann noch am ehesten hier", hatte Genista auf dem Rückweg vom Restaurant
gesagt. Frau H schlüpft in ihren müffelnden Leihschlafsack. Ihren Kopf bettet
sie auf die Rettungsweste, wie von John empfohlen. Draußen ist es vollkommen
still. Frau H stopft sich die mitgebrachten Schaumstoffohrstöpsel in die Ohren.
Dann versucht sie zu schlafen.
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