3 Algonquin Outfitters - Joe Lake


Schickt man Stadtkinder mit ungewohntem Krempel, scharfem oder spitzem, in die Wildnis, ist das Erste was natürlich zu geschehen hat, ein Unglück. Diese Binsenweisheit wird zur Schilfhütte auf den Gemeinplätzen, wenn das Stadtkind männlich und der Krempel ein Messer ist. Sollten Sie, hatte der Algonquinoutfitter gesagt, einen roten Streifen am Arm entdecken, dann paddeln Sie sofort nach Hause, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Dann hatte er Gummihandschuhe übergestreift, Jodtinktur und Alkoholtüchlein ausgepackt und den Finger verpflastert. Tut gar nicht weh. Nur ein Kratzer. Haha, Gangräne, guter Witz, Herr Outfitter.

Die Nacht ist gräßlich, die Feldbetten sind zu kurz, die Schlafsäcke zu dünn, die Geräuschkulisse irritiert. Wo ist die Musik vom 24-Stunden-Cafe? Wo der Straßenlärm? Auf dem See vor dem Zelt treibt einen halben Meter dick der Nebel, der aus dem warmen Wasser raucht, in der Wasserfläche spiegelt sich eine dünne Mondsichel. Das sieht gut aus, bedeutet aber vor allem, daß wir während der zehn Tage im Park den Mond allenfalls morgens zu sehen bekommen werden. Demnächst ist Neumond, Grüßgott, Dunkelheit, altes Haus. Auf dem Tisch vor dem Zelt liegt das formlose Stück Holz, aus dem eine dekorative Eidechse werden sollte. Ich reibe übers Pflaster und gucke demonstrativ in die andere Richtung.

Ziellos driften wir durch die ungewohnte Morgenlandschaft, bis die Outfitters sich auch aus ihren bequemen Betten in den bequemen Hütten neben dem Laden schälen und uns reinlassen. Ein schmales Frühstück wird uns serviert, dann wird unser Kanu durch Adam, einen weiteren der 120 Mitarbeiter der Outfitters, verladen und verzurrt. Einige letzte Kilometer entlang Highway 60 bringen uns in den Park, der sich von der Umgebung nicht merklich unterscheidet ("Did you see that brown sign? It means we're in the park now"). Gegründet wurde der Algonquin-Park 1893, schon damals als Widnisrefugium, und er gewann so viele Freunde, daß er mehrfach vergrößert wurde. Heute ist der Park ungefähr achteinhalbmal so groß wie Berlin. In ihm sind, mit einigen Ausnahmen, Motorfahrzeuge ebenso verboten wie Landwirtschaft, und mit Ausnahme einer Hand voll Einsiedler an zwei der Seen direkt an Highway 60 gibt es keine menschlichen Dauerbewohner mehr.

Am Vortag habe ich eine Faltangel gekauft, mit gehöriger Unsicherheit, denn ich habe noch nie geangelt und das nagende Gefühl, daß die Fische das wissen. Jetzt, während des Transportes zum Startpunkt, lasse ich mir von Adam das Nötige erklären: Hechte fasst man hinter dem Kopf an, dann wird man nicht gebissen. Einer Smallmouth Bass fasst man nicht an die Rückenflosse, die ist spitz. Lake Trout sind tief unten, 10 Meter oder mehr, mit einem Spoon hat man die besten Chancen. Ich nicke, als erwartete ich, daß die Ratschläge helfen. Mit den Dutzenden von seltsamen Haken und Dingern, die die Rute mitbrachte, ist auch meine Sammlung von Vollkornbrotbällchen verpackt. Forellen seien wild auf Vollkornbällchen, hatte man mir im Internet geraten, aber das Internet scheint plötzlich ungeheuer weit weg. Nicht weiter als die Fische, andererseits.

Während wir unser Camping-Permit und die Fishing License kaufen, lädt Adam Kanu und Rucksäcke ab. Vor uns beim Permitkauf vier Deutsche, die einen Kurzausflug planen, und das beachtlich laut und dämlich abwickeln. Auf alle Fragen des Parkangestellten reagieren sie mit einer Debatte auf Deutsch und nehmen offenbar an, daß der Kanadier dem schon wird folgen können. Deutsche Deppen, na prima, und sie wollen auch noch in unsere Richtung. Herrje. Beim eigenen Permitkauf fühle ich mich zur Verteidigung kanadischer denn je.



Nach einer Viertelstunde auf dem unruhigen, tiefblauen See verschwindet das Kanuzentrum hinter einer Biegung und wir sind endgültig unterwegs. Von Wildnis allerdings kann noch nicht die Rede sein, das Ufer ist gesäumt von privaten Hütten und Sommercamps, in denen die Stadtjugend paramilitärisch bei Laune gehalten wird, während die Eltern einen mehrwöchigen Seufzer tun. An all dem paddeln wir vorbei, während von Moment zu Moment der Wind auffrischt und die Wellen um unser Kanu höher tanzen. Vielleicht zehn Zentimeter ragt die Reling aus dem See. Als die Wellen anfangen, weiße Mützchen zu tragen und ins Boot zu schwappen, legen wir an.

Kanada ist ein Land mit schwachem Selbstbewußtsein. Weder kann es die reiche kulturelle Geschichte Europas, noch die wirtschaftlichen und militärischen Erfolge des großen Bruders vorweisen, und dieser zwiefache Mangel nagt. Groß ist daher die Begeisterung, wenn Kanadier es zu etwas bringen. Alle zwei Wochen behauptet ein Artikel in den Feuilletons, Kanadier seien die besseren Komiker seien: Bill Murray, Mike Myers, Jim Carrey, die Namen sprächen doch für sich! Aber auch in der Kunst brauche Kanada sich nicht zu verstecken, die Group of Seven, ein Malerclub von Weltrang, erpinselte eine kanadische Ikonographie. Krumme Landschaften in phantasmagorischen Farben. "The artists sought to capture the spirit of Canada in their paintings and, in this way, tried to express a Canadian identity". Oder so, genau.

Begonnen hat die Group of Seven, könnte man sagen, hier auf Canoe Lake, wo einer ihrer Gründer, Tom Thomson, begeistert von den Wäldern, anfing, sie zu malen. So geht der Gründungsmythos der kanadischen Nationalkunst, und wie jeder echte Mythos braucht auch dieser Tragik und Tod: am 8. Juli 1917 ertrank Thomson hier und wurde im See treibend gefunden. Ein Totempfahl und eine Gedenktafel einige Meter über dem Ufer bewachen den Teil des Sees, in dem es geschah, und auf dem jetzt die Brecher tanzen. Wir sehen ein Weilchen zu, aber der Wind macht keine Anstalten, sich zu legen und wir haben noch einige Kilometer vor uns - wir legen wieder ab.



Zu Mittag essen wir im Windschatten einer Landzunge, wenig später erreichen wir die erste Portage. Der nächste See liegt vier Meter höher als dieser, um den kleinen Staudamm herum tragen wir erst die Rucksäcke, dann setze ich mir das Kanu auf und watschle als Riesentukan ans Ufer von Joe Lake.



Der südliche Arm des Sees, der an der Portage endet, wird vom Rest des Sees durch eine ehemalige Eisenbahnbrücke getrennt, einer grandiosen Stahlkonstruktion, die in schwindelnder Höhe die Wogen überspannt, und über die vor achtzig Jahren die Besucher aus Toronto ins Algonquin Hotel fuhren, dessen Ruinen noch im Wald stehen, malerisch von Ranken überwachsen und von Gewürm bewohnt. So stellte ich mir das vor, als ich die Karte las. Tatsächlich führte die alte Eisenbahnstrecke über einen schmalen, flachen Damm, in dessen Mitte ein Brücklein gemauert ist, vielleicht vier Meter ist es breit, und über den jetzt die Laster fahren, die ein weiteres Camp mit Futter und Kinderpeitschen versorgen. Aber die Hotelruinen, die gibt es wirklich, grandios verfallen mitten im Wald, denn wir haben jetzt keine Zeit, nachzusehen. Wir setzen Kanu und Gepäck wieder zusammen und legen ab.

Nachdem wir das Camp aufgeschlagen und das Zelt einmal quer durch den Campingplatz auf einen besseren Platz getragen haben, fahren wir noch zu einem Ausflug. Den ganzen Tag kamen uns Kanus entgegen und erzeugten das merkwürdige Gefühl, daß alle von dort weglaufen, wo wir hinwollen. Das hat jetzt ein Ende: Alle sind weg.

In einer irren Laune knote ich die Angelrute ans Heck, den goldfunkelnden Spoon ans Ende, beschwere mit allen Gewichten, die ich habe, und gebe Schnur. Mit jedem Meter, der sich abwickelt, wird der Winkel gegen das Wasser flacher. In 20 Meter Tiefe tummeln sich die Fische, zeigen mit Flossen auf meinen Köder weit über sich und lachen sich kaputt. In einer flachen Bucht finden wir auf treibenden Sumpfinseln blühende Kannenpflanzen, ohne Blumenladen drumherum. Unbegreiflich. Eine von ihnen erangle ich mit der eingeholten Schnur. Den Haken zu befreien erfordert minutenlanges Manövrieren. Fischgelächter.

Nach dem Steak, das wir uns im Nieselregen gebraten haben, versickert die Dämmerung rasch im dichten Wald. Im Lagerfeuer rösten wir ein paar Marshmallows, when in rome do like a roman, der erste geht noch schwarz in Flammen auf, aber dann! Eine Sinfonie aus Karamel, Zuckerschmiere und Ruß! Simply delightful!

In den funzligen Kegeln zweier Taschenlampen packen wir den Essensrucksack und tragen ihn in den Wald, wo wir zuvor mühsam in wohl einem Dutzend Versuchen ein Seil über einen Ast in vier Meter Höhe geworfen haben. Jetzt versuchen wir, den tonnenschweren Sack am Seil hinaufzuziehen und scheitern erbärmlich. Im dunklen Wald stehe ich, stemme mit dünnen Ärmchen das Gewicht in die Nacht, während Frau H am Seil zerrt. Lustig klingelt dabei ihre Dinner Bell in den Wald. Resigniert belassen wir den Sack in zwei Meter Höhe, bequem pflückbar für Meister Petz, und strolchen zurück ins Lager. Wo wir, im Lichtkegel der Lampen, den vergessenen Müllsack finden, mit Essensresten drinnen. Das Nieseln wurde indessen zum Regen, der Sack bleibt liegen. Bis morgen wird der Wald ein Loch hineingenagt haben. Die Dunkelheit ist nun komplett, drückende Wolken lasten auf dem Zelt. Nichts ist zu hören als das Trommeln des Regens. Aus diffusem, schwarzem Druck wird unruhiger Schlaf.

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