Schickt man Stadtkinder mit ungewohntem Krempel, scharfem oder spitzem, in die
Wildnis, ist das Erste was natürlich zu geschehen hat, ein Unglück. Diese
Binsenweisheit wird zur Schilfhütte auf den Gemeinplätzen, wenn das
Stadtkind männlich und der Krempel ein Messer ist. Sollten Sie, hatte der
Algonquinoutfitter gesagt, einen roten Streifen am Arm entdecken, dann paddeln Sie
sofort nach Hause, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Dann hatte er Gummihandschuhe übergestreift,
Jodtinktur und Alkoholtüchlein ausgepackt und den Finger verpflastert.
Tut gar nicht weh. Nur ein Kratzer. Haha, Gangräne, guter Witz, Herr Outfitter.
Die Nacht ist gräßlich, die Feldbetten sind zu kurz, die Schlafsäcke zu
dünn, die Geräuschkulisse irritiert. Wo ist die Musik vom 24-Stunden-Cafe? Wo
der Straßenlärm? Auf dem See vor dem Zelt treibt einen halben Meter dick der
Nebel, der aus dem warmen Wasser raucht, in der Wasserfläche spiegelt sich eine
dünne Mondsichel. Das sieht gut aus, bedeutet aber vor allem, daß wir während
der zehn Tage im Park den Mond allenfalls morgens zu sehen bekommen werden.
Demnächst ist Neumond, Grüßgott, Dunkelheit, altes Haus. Auf dem Tisch vor
dem Zelt liegt das formlose Stück Holz, aus dem eine dekorative Eidechse werden
sollte. Ich reibe übers Pflaster und gucke demonstrativ in die andere Richtung.
Ziellos driften wir durch die ungewohnte Morgenlandschaft, bis die Outfitters
sich auch aus ihren bequemen Betten in den bequemen Hütten neben dem Laden
schälen und uns reinlassen. Ein schmales Frühstück wird uns serviert, dann
wird unser Kanu durch Adam, einen weiteren der 120 Mitarbeiter der Outfitters,
verladen und verzurrt. Einige letzte Kilometer entlang Highway 60 bringen uns in
den Park, der sich von der Umgebung nicht merklich unterscheidet ("Did you see
that brown sign? It means we're in the park now"). Gegründet wurde der
Algonquin-Park 1893, schon damals als Widnisrefugium, und er gewann so viele
Freunde, daß er mehrfach vergrößert wurde. Heute ist der Park ungefähr
achteinhalbmal so groß wie Berlin. In ihm sind, mit einigen Ausnahmen,
Motorfahrzeuge ebenso verboten wie Landwirtschaft, und mit Ausnahme einer Hand voll
Einsiedler an zwei der Seen direkt an Highway 60 gibt es keine menschlichen
Dauerbewohner mehr.
Am Vortag habe ich eine Faltangel gekauft, mit gehöriger Unsicherheit, denn ich
habe noch nie geangelt und das nagende Gefühl, daß die Fische das wissen.
Jetzt, während des Transportes zum Startpunkt, lasse ich mir von Adam das
Nötige erklären: Hechte fasst man hinter dem Kopf an, dann wird man nicht
gebissen. Einer Smallmouth Bass fasst man nicht an die Rückenflosse, die ist
spitz. Lake Trout sind tief unten, 10 Meter oder mehr, mit einem Spoon hat man
die besten Chancen. Ich nicke, als erwartete ich, daß die Ratschläge helfen.
Mit den Dutzenden von seltsamen Haken und Dingern, die die Rute mitbrachte, ist
auch meine Sammlung von Vollkornbrotbällchen verpackt. Forellen seien wild auf
Vollkornbällchen, hatte man mir im Internet geraten, aber das Internet scheint
plötzlich ungeheuer weit weg. Nicht weiter als die Fische, andererseits.
Während wir unser Camping-Permit und die Fishing License kaufen, lädt Adam Kanu
und Rucksäcke ab. Vor uns beim Permitkauf vier Deutsche, die einen Kurzausflug
planen, und das beachtlich laut und dämlich abwickeln. Auf alle Fragen des
Parkangestellten reagieren sie mit einer Debatte auf Deutsch
und nehmen offenbar an, daß der Kanadier dem schon wird folgen können. Deutsche Deppen, na
prima, und sie wollen auch noch in unsere Richtung. Herrje. Beim eigenen Permitkauf
fühle ich mich zur Verteidigung kanadischer denn je.
Nach einer Viertelstunde auf dem unruhigen, tiefblauen See verschwindet
das Kanuzentrum hinter einer Biegung und wir sind endgültig unterwegs. Von
Wildnis allerdings kann noch nicht die Rede sein, das Ufer ist gesäumt von
privaten Hütten und Sommercamps, in denen die Stadtjugend paramilitärisch bei
Laune gehalten wird, während die Eltern einen mehrwöchigen Seufzer tun. An all
dem paddeln wir vorbei, während von Moment zu Moment der Wind auffrischt und
die Wellen um unser Kanu höher tanzen. Vielleicht zehn Zentimeter ragt die
Reling aus dem See. Als die Wellen anfangen, weiße Mützchen zu tragen und ins
Boot zu schwappen, legen wir an.
Kanada ist ein Land mit schwachem Selbstbewußtsein. Weder kann es die reiche
kulturelle Geschichte Europas, noch die wirtschaftlichen und militärischen
Erfolge des großen Bruders vorweisen, und dieser zwiefache Mangel nagt. Groß
ist daher die Begeisterung, wenn Kanadier es zu etwas bringen. Alle zwei Wochen
behauptet ein Artikel in den Feuilletons, Kanadier seien die besseren Komiker
seien: Bill Murray, Mike Myers, Jim Carrey, die Namen sprächen doch für sich!
Aber auch in der Kunst brauche Kanada sich nicht zu verstecken, die Group of Seven,
ein Malerclub von Weltrang, erpinselte eine kanadische Ikonographie. Krumme Landschaften in
phantasmagorischen Farben. "The artists sought to capture the spirit of Canada
in their paintings and, in this way, tried to express a Canadian identity".
Oder so, genau.
Begonnen hat die Group of Seven, könnte man sagen, hier auf Canoe Lake,
wo einer ihrer Gründer, Tom Thomson, begeistert von den Wäldern, anfing, sie zu
malen. So geht der Gründungsmythos der kanadischen Nationalkunst, und wie jeder
echte Mythos braucht auch dieser Tragik und Tod: am 8. Juli 1917 ertrank Thomson
hier und wurde im See treibend gefunden. Ein Totempfahl und eine Gedenktafel
einige Meter über dem Ufer bewachen den Teil des Sees, in dem es geschah, und
auf dem jetzt die Brecher tanzen. Wir sehen ein Weilchen zu, aber der Wind macht
keine Anstalten, sich zu legen und wir haben noch einige Kilometer vor uns - wir
legen wieder ab.
Zu Mittag essen wir im Windschatten einer Landzunge, wenig später
erreichen wir die erste Portage. Der nächste See liegt vier Meter höher als
dieser, um den kleinen Staudamm herum tragen wir erst die Rucksäcke, dann setze
ich mir das Kanu auf und watschle als Riesentukan ans Ufer von Joe Lake.
Der südliche Arm des Sees, der an der Portage endet, wird vom Rest des Sees
durch eine ehemalige Eisenbahnbrücke getrennt, einer grandiosen
Stahlkonstruktion, die in schwindelnder Höhe die Wogen überspannt, und über
die vor achtzig Jahren die Besucher aus Toronto ins Algonquin Hotel fuhren,
dessen Ruinen noch im Wald stehen, malerisch von Ranken überwachsen und von
Gewürm bewohnt. So stellte ich mir das vor, als ich die Karte las. Tatsächlich
führte die alte Eisenbahnstrecke über einen schmalen, flachen Damm, in dessen
Mitte ein Brücklein gemauert ist, vielleicht vier Meter ist es breit, und über
den jetzt die Laster fahren, die ein weiteres Camp mit Futter und
Kinderpeitschen versorgen. Aber die Hotelruinen, die gibt es wirklich,
grandios verfallen mitten im Wald, denn wir haben jetzt keine Zeit, nachzusehen. Wir
setzen Kanu und Gepäck wieder zusammen und legen ab.
Nachdem wir das Camp aufgeschlagen und das Zelt einmal quer durch den
Campingplatz auf einen besseren Platz getragen haben, fahren wir noch zu einem
Ausflug. Den ganzen Tag kamen uns Kanus entgegen und erzeugten das merkwürdige
Gefühl, daß alle von dort weglaufen, wo wir hinwollen. Das hat jetzt ein Ende:
Alle sind weg.
In einer irren Laune knote ich die Angelrute ans Heck, den goldfunkelnden Spoon
ans Ende, beschwere mit allen Gewichten, die ich habe, und gebe Schnur. Mit
jedem Meter, der sich abwickelt, wird der Winkel gegen das Wasser flacher. In 20
Meter Tiefe tummeln sich die Fische, zeigen mit Flossen auf meinen Köder weit
über sich und lachen sich kaputt. In einer flachen Bucht finden wir auf
treibenden Sumpfinseln blühende Kannenpflanzen, ohne
Blumenladen drumherum. Unbegreiflich. Eine von ihnen erangle ich mit der
eingeholten Schnur. Den Haken zu befreien erfordert minutenlanges Manövrieren.
Fischgelächter.
Nach dem Steak, das wir uns im Nieselregen gebraten haben, versickert die
Dämmerung rasch im dichten Wald. Im Lagerfeuer rösten wir ein paar
Marshmallows, when in rome do like a roman, der erste geht noch schwarz in Flammen
auf, aber dann! Eine Sinfonie aus Karamel, Zuckerschmiere und Ruß! Simply delightful!
In den funzligen Kegeln zweier Taschenlampen packen wir den Essensrucksack und
tragen ihn in den Wald, wo wir zuvor mühsam in wohl einem Dutzend Versuchen ein
Seil über einen Ast in vier Meter Höhe geworfen haben. Jetzt versuchen wir,
den tonnenschweren Sack am Seil hinaufzuziehen und scheitern erbärmlich. Im
dunklen Wald stehe ich, stemme mit dünnen Ärmchen das Gewicht in die Nacht,
während Frau H am Seil zerrt. Lustig klingelt dabei ihre Dinner Bell in
den Wald. Resigniert belassen wir den Sack in zwei Meter Höhe, bequem
pflückbar für Meister Petz, und strolchen zurück ins Lager. Wo wir, im
Lichtkegel der Lampen, den vergessenen Müllsack finden, mit Essensresten drinnen. Das
Nieseln wurde indessen zum Regen, der Sack bleibt liegen. Bis morgen wird
der Wald ein Loch hineingenagt haben. Die Dunkelheit ist nun komplett,
drückende Wolken lasten auf dem Zelt. Nichts ist zu hören als das Trommeln des
Regens. Aus diffusem, schwarzem Druck wird unruhiger Schlaf.
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