4 Joe Lake - Burnt Island Lake


Use your nose! Black bears have a powerful "animal" smell which can linger long after the animal has left the area.
Mary Zanotelli, "Tracking Bears"


Als ich zum siebten Mal aufwache, ist endlich Morgen. Fahles Licht sickert durch das mit der blauen Extraplane abgedeckte Zeltdach. Es regnet noch immer. Irgendein Idiot hatte mir empfohlen, die Rettungsweste als Kopfkissen zu benutzen. Ich verfluche ihn innerlich, während ich versuche, meine schmerzende Gesichts- und Halsmuskulatur zu lockern.

Dann wecke ich Genista. In unseren duften neuen Goretexjacken kriechen wir aus dem Zelt. Aus den tiefhängenden Wolken trieft es, der See ist so grau wie der Himmel. Wir setzen die Kapuzen auf und gehen in den Wald.

Der Wald ist ein Gewirr von dicht stehenden Bäumen und hohem Unterholz. Unser Zeltplatz ist nur eine winzige, künstliche Lichtung an seinem Rand. In Deutschland gibt es keine Wälder, dort gibt es Forste. Wer mit Forsten großgeworden ist, wird beim Anblick eines kanadischen Waldes womöglich von einem Gefühl der Beunruhigung beschlichen, das nicht allein daher rührt, dass zehn Meter entfernt im Dickicht ein Bär stehen könnte, und man würde ihn nicht wahrnehmen. Beunruhigend ist das Chaos, das Gewirr und Geschling, der offensichtliche Kampf der Pflanzen um Licht und die dünne Nährstoffschicht auf dem Granit. Es ist ein erbarmungsloser Ort.

Im Algonquin-Park gibt es nach Schätzung der Parkverwaltung einen Schwarzbären auf je drei Quadratkilometern. Wir haben Glück: In der vergangenen Nacht hat sich unser Bär offenbar auf den anderen zwei Quadratkilometern seines Reviers herumgetrieben. Unser tonnenschwerer Essensrucksack, der so lächerlich niedrig hängt, dass sogar ich ihn bequem anfassen kann, baumelt unbeschädigt an seinem Ast. Genista muss das Monstrum von unten festhalten, während ich es vorsichtig abseile. Auf dem Kochplatz liegt noch unser Müllsack. Ein Marder hat ihn mit seinen kleinen spitzen Zähnen hufeisenförmig perforiert.

Der Essensplan sieht zum Frühstück Bacon und Ei vor. Beides ist frisch und muss deshalb heute gegessen werden. Es regnet in die Pfanne, das Fett zischt und spritzt. Wir essen stehend unter einem Baum, auf den Tellern bilden sich dennoch kleine Pfützen.

Im Zelt verpacke ich unsere Sachen wasserdicht, dann bauen wir ab, beladen in dem kleinen natürlichen Granitfelshafen unser Kanu und paddeln los, den östlichen Arm von Joe Lake hinunter. Genista befestigt seine Angel am Heck und lässt den Haken mit dem Spoon hinunter zu den Lake Trouts.

Nach zwei Meilen bekommt der See plötzlich eine Beule, wir haben Little Joe Lake erreicht. Hier befindet sich der letzte Vorposten der Zivilisation: Arowhon Lodge, ein stattlicher Blockhüttenkomplex. Die hoteleigenen Kanus liegen auf ihren Gestellen am Ufer, nur eines davon ist unterwegs, es enthält ein säuerliches Ehepaar und steuert in unsere Richtung. Dort dümpelt eine Loon, ein Eistaucher, Star unter den Vögeln des Parks.

Die Ojibwa nannten diesen eindrucksvollen Vogel "great spirit of the north". Er ist ein Relikt aus prähistorischen Zeiten, verwandt mit Pinguin und Kormoran. Die Loon ist für die Fischjagd unter Wasser konstruiert. Ihre Beine sitzen so weit hinten am Körper, dass sie an Land nahezu hilflos ist. Die Flügel, exzellente Tauchruder, sind so klein, dass sie auf einer Strecke von mehreren hundert Metern darum kämpfen muss, eine brauchbare Flughöhe zu erreichen. Es sieht dann aus, als würde sie über die Wasseroberfläche laufen, während ihre Flügelspitzen geräuschvoll ins Wasser klatschen. Trotz dieses Handicaps ist die Loon ein Zugvogel. Sie hat keine Wahl, denn im Winter frieren die Seen zu. Deshalb verbringt sie die kalten Monate auf dem stürmischen Atlantik vor der kanadischen Küste.

Die Loon auf Little Joe Lake sieht aus wie ein kleines Loch-Ness-Monster. Der schwanenlange Körper ragt nur ein ganz kleines Stück aus dem Wasser (die Loon hat Schwimmblasen, mit denen sie ihre Position regulieren kann). Schnabel, Kopf und Hals sind tiefschwarz. Als wir uns nähern, läßt der Vogel ein irres Gelächter ertönen. Es ist das Tremolo, der Warnruf, und wenn ich ein charakteristisches Geräusch dieser Landschaft benennen müsste, dann wäre es dieser Laut. Dann taucht die Loon. Sie bleibt sehr lange unter Wasser. Das säuerliche Ehepaar dreht ab, es paddelt zurück zu Kaminfeuer und Komfort. Wir aber machen uns allen Ernstes auf den Weg in die tiefe Wildnis.

An seinem östlichen Ende verengt sich Little Joe Lake immer mehr, Genista holt die Angel ein, der Haken ist leer. Schließlich erreichen wir die Mündung eines kleinen Flusses, den wir nun hinaufpaddeln.



Der Regen hat aufgehört, gelegentlich fällt ein Sonnenstrahl durch die Wolken. Der Fluss windet sich durch hohes Schilf. Ein Graureiher steht am Ufer und tut japanisch. Aus dem nebligen Wald hinter ihm ragen bizarre Baumsilhouetten. Es ist vollkommen still. Und plötzlich ist da dieser Geruch. Es riecht eindeutig nach Tier, süßlich, moschusartig. Ich versuche, mich an den Bibermief im Torontoer Zoo zu erinnern, komme aber zu keinem eindeutigen Schluss. Im Uferbewuchs kann man da und dort schmale Pfade zum Wasser entdecken, Tierpfade. Was, wenn uns hinter der nächsten Flußbiegung ein äsender Elch den Weg versperrt? Doch nichts dergleichen geschieht. Nur das Wasser wird immer flacher, und schließlich leuchtet uns vom linken Ufer ein gelbes Portage-Schild entgegen. Wir gehen an Land. Während wir noch die Wassertiefe sondieren und überlegen, ob wir die Portage womöglich umfahren können, taucht aus der Gegenrichtung ein Kanu auf. Seine freundliche Besatzung ermuntert uns zum Weiterfahren. Wir folgen ihrem Rat und hören nach kurzer Zeit erstmals das Geräusch am Kanuboden entlangschrammender Steine. Nach ein paar hundert Metern geht es nicht mehr weiter, wir sitzen auf Grund.



In solchen lebensgefährlichen Extremsituationen hängt alles von der richtigen Ausrüstung ab. Wir zippen die langen Beine von unseren Trekkinghosen, vertauschen die Wanderschuhe mit Trekkingsandalen und steigen aus dem Boot. Und siehe da, das Kanu hat wieder Wasser unterm Kiel, wir können es bequem ziehen. Wir sind gerettet!

So erreichen wir, mal paddelnd, mal ziehend, ohne Zwischenfälle Baby Joe Lake, an dessen Nordufer uns ein einladender, flacher Sandstrand und eine unumgängliche Portage erwarten. Deshalb und weil Mittag ist und die Sonne von einem mittlerweile wolkenlosen Himmel strahlt und weil es hungrig macht, sämtliche Lebensalter eines Sees im Rückwärtslauf zu durchfahren, machen wir Lunchpause. Es gibt Bagels, Käse und ein großes Stück Fleischwurst, das sich auf seiner goldenen Plastikhülle dreist als "Salami" ausgibt. Ich erinnere mich, am Vortag ein solches Wurststück am Ufer unseres Campingplatzes gefunden zu haben. Wir wussten nicht, was wir damit machen sollen. Zum Verbrennen war es zu groß, und die Aussicht, zehn Tage lang eine verwesende Wurst im Müllbeutel herumzuschleppen, wenig verlockend. Um sie tief genug zu vergraben, fehlte uns das Werkzeug. Also packte ich den potentiellen Bärenköder in eine Ziploc-Tüte und versenkte ihn in Ufernähe unter einem kleinen Steinhaufen.

Eins ist also klar: Sollte die sogenannte Salami nicht essbar sein, haben wir ein Entsorgungsproblem. Nicht noch einmal möchte ich die jungfräulichen Wasser eines kanadischen Nationalparksees schänden müssen. Glücklicherweise kommt uns ein Effekt zu Hilfe, den ich in den folgenden Tagen noch oft beobachten werde: Wenn man sich den ganzen Tag mit eigener Muskelkraft durch die Wildnis bewegt und dabei die würzige, klare Waldluft atmet, schmeckt einem einfach alles. Man isst andächtig und dankbar Dinge, die man im Alltag ohne zu zögern als "Fraß" bezeichnen würde. Und das, ich schreibe dies ohne einen Funken Sarkasmus, ist eine sehr schöne Erfahrung.

So sitzen wir, essen unsere Bagels und blinzeln träge in die Sonne, als wir drei Kanus erspähen, die direkt auf uns zusteuern. Vertraute Laute dringen an unsere Ohren, es werden doch nicht, doch, es sind zweifellos unsere Landsleute aus dem Permit-Office. Kurz darauf landen sie, dabei schreien sie in einem undefinierbaren Schwäbischhessisch herum, es ist zum Davonlaufen. Wir sagen "Hi" und dann nichts mehr. Das fällt nicht weiter auf, denn nun landet das dritte Kanu, ein wettergegerbtes älteres Paar steigt aus und wird auf Schwäbischhessischenglisch vollgeschrien. Die beiden schultern ihre Rucksäcke und flüchten in den Wald. Bald darauf nehmen zwei mutmaßliche Lehramtskandidaten und eine Lehramtskandidatin die Verfolgung auf. Die vierte bleibt beim Kanu und dem Rest der Ausrüstung zurück. Sie bewacht die Sachen! Nun sind wir wirklich sprachlos.

Nachdem die verbleibende Lehramtskandidatin samt Kanu und Rucksack in Sicherheit gebracht ist und auch das kanadische Paar sein Boot abgeholt hat, machen wir uns auf den Weg. Wir ächzen unter unserem Gepäck. Die Portage ist glücklicherweise nicht lang und führt durch ein hübsches Waldstück. Lustig klingelt meine Bärenglocke am Gürtel. In den Kiefern schlagen Blauhäher Alarm.

Bald darauf paddeln wir auf Burnt Island Lake nach Nordosten. Das ist nun ein richtiger See, kein Babygewässer, und bald lege ich die Rettungsweste an und knie mich hin, um das Boot zu stabilisieren, denn hier weht ein heftiger Wind und der Wellengang ist beachtlich. Am südlichen Horizont bilden sich gewaltige Amboßwolken. Wir paddeln mühsam an Caroline Island vorbei, einer Insel, die mir wegen ihres Namens sehr sympathisch ist. Dann steuern wir einen verlockenden Zeltplatz am Nordufer an. Der Wind hat jetzt fast Sturmstärke erreicht, unser Kanu steht parallel zu den Wellen, die schon vereinzelt weiße Schaumkronen tragen. Das ist nicht gut. Wir treiben unaufhaltsam nach Osten und flüchten uns auf den nächsten erreichbaren Platz. Ranger haben dort aus Felsbrocken eine kleine Mole gebaut, nur deshalb können wir landen, ohne abzudriften.

Der Campingplatz liegt auf einer Landzunge, über dem Landeplatz gibt es eine sonnige Wiese, auf der wir unser Zelt aufbauen. Ich lege das nasse Überzelt und unsere klammen Schlafsäcke ins Gras. Dann baden Genista und ich im See. Es ist angenehm, den Schweiss von zwei Tagen abzuspülen. Das Angenehmste ist aber, anschließend auf einem warmen Stein zu sitzen und sich von der Sonne trocknen zu lassen. Glücklicherweise sind wir schon wieder angezogen, als die Schwabenhessen schreiend an uns vorbeipaddeln. Sie müssen den gesamten See umrundet haben. "Endspurt!" schreit einer der Lehramtskandidaten. "Und Eins! Und Eins!" Die beiden Kanus entfernen sich schnell, bald sind sie außer Sichtweite. An diesem Abend sehen wir niemanden mehr.



Dann wird es Zeit, das Zelt einzurichten und zu kochen. Der Grillplatz liegt 20 Meter oberhalb der Wiese. Dahinter führen zwei Wege in einen struppigen, düsteren Wald aus Fichten und Birken. Viele ältere Birken liegen umgestürzt am Boden, die Stämme sind innerlich komplett verrottet. Wir suchen einen Ast für unser Foodpack und hängen das Seil auf.



Dann essen wir, es gibt Pasta mit gefriergetrockneten grünen Bohnen, noch bizarrer ist der Nachtisch, Hot Fruit Cobbler, ein Obstkuchen, dessen Teig in einem Topf mit heißer Blaubeermasse gart. Das schmeckt alles ganz hervorragend.

Schließlich liegen wir in unseren Schlafsäcken, nachdem wir die Vorräte aufgehängt haben (zwei Meter hoch, es geht einfach nicht höher). Um 19 Uhr geht die Sonne unter, jetzt ist es 21 Uhr und vollkommen dunkel. Ich höre, wie die Wellen ans Ufer klatschen, und versuche, nicht an den unheimlichen, tuberkulösen Wald zu denken. Kurz darauf schlafe ich ein.

Ich kann noch nicht lange geschlafen haben, als Genista mich weckt. Er sieht furchterregend aus, bleich, die Augen schreckgeweitet, seine Hände sind eiskalt. Hat er draußen etwas gehört? Mein Blick wandert zu Taschenmesser und Trillerpfeife. Wir haben kein Pfefferspray dabei, es wird in Behältnissen von der Größe kleiner Feuerlöscher verkauft und kostet 50 Dollar, das erschien uns übertrieben.

Er hielte es nicht mehr aus im Zelt, er habe Angst, furchtbare Angst. Ihm ist gerade aufgefallen, dass wir gefangen sind in diesem engen Zelt, um uns nichts als schwarze, stille Wildnis. Wir können nicht von hier verschwinden, nicht vor dem Morgen.

Zu meiner eigenen Überraschung bleibe ich ruhig. Vielleicht ist das ein Effekt der vielen Wochen, in denen ich in Buchhandlungen nicht an Büchern mit Titeln wie "Bear Attacks and how to avoid them" vorbei gehen konnte, ohne sie mit zitternden Fingern durchzublättern, oder in denen ich mir abends beim Einschlafen schaudernd vorstellte, ich läge in einem Zelt in der Einöde, während es draußen verdächtig scharrt und raschelt. Ich hatte Angst vor dieser Reise und bin vielleicht gerade deshalb gut auf sie vorbereitet.

Jetzt besinne ich mich darauf, dass ich vor Jahren einmal autogenes Training gelernt habe. Mit meiner besten Meditationskassettenstimme säusle ich Genista und mich in einen Zustand tiefster Entspannung. Das scheint zu helfen. In dieser Nacht werde ich nicht mehr geweckt.

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