Manchmal vergißt man sie völlig. Fällt sie einem dann allerdings in einer
beengten Umgebung wieder ein, geht sie nicht mehr weg, wie ein Ameisenlöwe sitzt
sie im Kopf und zwingt das Denken auf immer engeren Kreisen um sich herum.
Irgendwann schnappt die Klaustrophobie zu, dann muß man raus, sofort, oder sich
so gründlich ablenken, daß man sie vergißt. Hier, unter einem drückenden Himmel
und im Angesicht des düsteren Waldrandes, der alle Seen säumt, gibt es wenig
Ablenkung, selbst tagsüber hat die Weite des Wassers etwas Beengendes,
Beängstigendes. Aber Nachts!
Es ist nicht das Tier, das draußen in den Winkeln hockt und die Zähne
bleckt, es ist der Wald selbst, der mir zu nahe rückt, das pechschwarze Zelt um
mich schnürt. Draußen plätschert der See, ein fremdes Geräusch. Die Augen zu
öffnen macht keinen Unterschied. Langsam spüre ich, wie sich Angst in meine
Gedanken schleicht. Es gibt keine Gefahr, denke ich, mir gefällt es hier, denke
ich, aber die Sirenen schrillen sekündlich lauter. Ich will raus, will weg, ein
überwältigender Fluchtimpuls baut sich auf, und läuft gegen eine Mauer aus
Dunkelheit. Dann gehöre ich der blinden Panik.
Lansing, in seinem Bericht von Shackletons transantarktischer Expedition,
schreibt, was für eine bemerkenswerte Leistung es ist, daß die im Eis gefangenen
Teilnehmer in der Polarnacht nicht, wie andere Expeditionen vor ihnen, den
Verstand verloren. Er berichtet von Männern, die im Kreis um ihr Schiff rennen,
um sich die nicht abbrechenden Gedanken aus dem Leib zu kämpfen, und die
scheitern. Lese ich das, während ich zuhause sitze, eine Leselampe über dem
weich gebetteten Kopf, dann kann ich den Gedanken zwar nachvollziehen, der
Wahnsinn, von dem Lansing spricht, bleibt aber abstrakt. Hier, in der
kanadischen Nacht, mache ich die Bekanntschaft seines kleinen Bruders.
Ich öffne das Zelt, stecke den Kopf hinaus, die Sterne geben ein fahles
Licht, zum Glück ist es nicht bewölkt, aber dennoch rückt Schwärze mir nahe,
saugende Leere und enges Gefängnis zugleich. Ich wecke Frau H, ich habe keine
Wahl, aber indem ich die Panik in Worte fasse, mache ich zwei aus ihr. Eine
wortlose und eine artikulierte. Steigere Dich nicht rein, sagt sie, was, wenn
ich auch Panik bekomme? Das beruhigt mich ein wenig, jeder Gedanke ist eine
Ablenkung.
Eine weitere Ablenkung: ich muß auch auf die Toilette, die bei all diesen
Campingplätzen ein Loch mitten im Wald ist, mit einem Brettkasten darüber, in
den ein Loch gesägt wurde, mit einem Deckel drauf. Dankbar für die Bewegung
nehme ich eine Taschenlampe und gehe, vielleicht vierzig Meter weit, in den
Wald, da ist der Kasten. Während ich hier sitze, lasse ich die Taschenlampe über
das nahe Gebüsch streichen, ich sehe natürlich nichts über die erste Schicht der
Blätter hinaus, aber ich höre sie: interessiertes Rascheln nähert sich, das
Licht, das mir einen Raum gibt, in dem sich die Panik verdünnen kann, ist eine
Leuchtreklame im hiesigen Nachtleben. "Menschen mit runtergelassenen Hosen"
funkelt sie hinaus. Und warum auch nicht.
Fast fühle ich mich wohl im Wald, aber jetzt muß ich zurück ins Zelt, in die
Enge, und sofort kommt die rasende Panik wieder. Ginge morgen die Sonne nicht
auf, ich liefe zum Frühstück schon ums Schiff in engen Kreisen, selbst wenn gar
keins da wäre, und sänge laut Fahrtenlieder gegen den Ichverlust. Zum Glück hat
aber Frau H ihre geistige Notapotheke zur Hand, mit Engelsstimme hypnotisiert
sie mich an einen Strand, meine Glieder werden schwer ("Das ist nur ein Trick"
schreit machtlos die Panik), und noch eine halbe Stunde liege ich da und erwürge
die Angst mit Strand. Dann ist gut.
Am Morgen ist der Himmel saubergefegt und blau wie eine Schönwetterhaubitze.
Noch vor dem Frühstück paddeln wir einige Meter zu unserem Wunsch-
Campingplatz, von dem uns der Wind gestern wegtrieb. Hinter diesem Platz ist
eine kleine Bucht, in der Bucht seichtes, sumpfiges Wasser. In solchem Gelände,
da sind sich die Führer einig, tanzen die Moose, die kanadische Variante der
Elche, des Morgens Ballett. Und was der Führer sagt, glaubt der Deutsche
natürlich gern. Gelogen ist es, man hätte es wissen können, still und starr
ruht der See, und nachdem ich einen kleinen Totempfahl frech von hinten genommen
habe, gibt es auch schon Frühstück (Freedom Toast) und Aufbruch.
Burnt Island Lake - auf dem übrigens weit und breit keine verbrannte
Insel zu sehen ist - legt nachmittags oft schweren Wind auf und ist dann
unschiffbar. Weil der Mensch ein Narr ist und nicht aus Fehlern lernen mag,
knote ich während der Fahrt erneut die Rute ans Heck und lasse Schnur und
Hoffnung sausen.
Es saust auch ein steifer Wind aus Nordost und schiebt uns wild über den
See, der wieder einmal in lustigen Wellen um uns her tanzt. Das nächste Ufer -
Burnt Island ist kein Pipikackasee, sondern ausgewachsen und mit Haaren auf der
Brust - ist wenigstens 500 Meter entfernt. Und in der falschen Richtung. Wir
legen die Persönlichen Schwimm-Geräte an und paddeln ein wenig entschiedener.
Die sich brechenden Wellen gewinnen stetig an Höhe, der Schaum sammelt sich in
eigenartigen, gradlinigen Straßen auf dem Wasser, die wir schräg durchqueren.
Kämen mehr als vier große Wellen hintereinander, das Boot müsste kentern.
Netterweise kommen sie einzeln und im Abstand. Wir paddeln wie irr, zäh rückt die Küste näher,
dann aber doch. Ein sanfter Sandstrand, wir ziehen das Kanu hinauf und essen
erstmal zu Mittag. Wenig später steuert durch die hochschlagenden Wellen ein
weiteres Paar den Strand an, zwei Kanadier, die in Irland leben, und zum Urlaub
zurück kommen in die Wildnis. Während wir noch essen, laden die beiden sich
alles auf und verschwinden im Wald.
Als gestern über den Bäumen am Seeufer grell wie der Scheinwerfer eines
landenden Flugzeugs der Abendstern leuchtete, mußte ich "I’m your venus, I’m
your fire" denken, es ging nicht anders. Der Automatismus ärgerte mich zuerst,
meine Wahrnehmung, die wie ein rostiger Supertanker die Jungfräulichkeit mit
öligen Vergleichen verklebte. Nach den Prüfungen der Nacht allerdings habe ich
Respekt für meine Umgebung, der über den Naturliebekitsch hinausgeht. Die
Deutungen und Mythologisierungen, ob mächtige Göttinen, Flugzeuge oder
Bananarama bemüht werden, machen aus der Fremde ein Gegenüber. Und weitere
Erkenntnis: relative Einsamkeit verführt schon nach wenigen Tagen zu banalem
Blödsinn. Es wird Zeit für körperliche Arbeit.
800 Meter lang ist die Portage, die längste bis jetzt. Die Irenkanadier
trugen all ihr Gepäck auf einmal, und zusätzlich zum Gepäck setzte sich der Mann
noch das Kanu auf. Daran ist für uns nicht zu denken, wir müssen uns gegenseitig
mit den schweren Rucksäcken auf die Beine helfen, dann stapfen wir wankend los,
durch den Wald, über eine Wasserscheide hinweg. Bislang paddelten wir gegen die
Strömung, die Richtung Lake Huron führt, aufwärts, auf der anderen Seite werden
wir der Strömung abwärts Richtung St. Lorenzstrom folgen. Aber erst müssen wir
die andere Seite erreichen.
Der Wald, den wir durchqueren, ist friedlich still und strotzend
grün. Aber bei näherem Hinsehen sieht man auch hier wieder
überall die Nährstoffarmut dieser Gegend und den Kampf um Licht,
Stickstoff und das zarte Fleisch durchächzender Wanderer. Bäume fallen
haltlos von den Brocken, auf denen sie sich leichtsinnig festzukrallen
versuchten, nur wenige Zentimeter körniger Waldboden deckt den uralten
Granit. Kreuz und quer lasten die Toten auf den Lebenden. Auf einem der nackten
Felsbrocken rasten wir und trinken gierig Wasserflohsuppe mit Totmachchemie drin
aus Plastikflaschen. Natur!
Wenig später stolpern wir einen sanften Abhang hinab in eine Senke, die
quer zum Weg verläuft, und durch die im Frühjahr sicher ein kleines Flüsslein
plätschert. Jetzt ist es nur ein matschiger Streifen Wald mit großen
Prankenabdrücken drin. Ein Bär kam hier vorbei, lang kann es nicht her sein. Wir
sehen uns um, man sieht kaum 10 Meter weit in diesem grünen Wirrwar, und gehen
dann weiter. Frau Hs Dinnerbell bimmelt womöglich etwas lauter jetzt, aber in
dieser Stille klingt jedes Geräusch laut. Ein Specht zum Beispiel, klopft einen
Baum zaghaft auf Gewürm ab, und man hört ihn hunderte von Metern weit,
verhallend. Dann sind wir durch, laden die Rücksäcke ab und machen uns auf den
Rückweg. Dann sind wir schon wieder durch und ich lade mir das Kanu auf.
Ein Kanu zu tragen ist eine lustige Erfahrung, und das nicht nur, weil
man bekloppt aussieht. Das Kanu ist zuerst erstaunlich leicht vorwärts zu
bewegen, gleichzeitig aber extrem schwer zu drehen, sowohl Richtungsänderungen
als auch Kippungen setzt es enormen Widerstand entgegen. Nach einer Weile
nivellieren bohrende Schmerzen in den Schultern aber den Unterschied und jede
Bewegung wird anstrengend. Interessant ist auch, was man vom Weg noch sieht,
nachdem man sich ein Kanu aufgesetzt hat: nichts. Als die ersten
Kanuhüte erfunden und durch die Wälder getragen wurden, muß es eine Offenbarung
gewesen sein, als jemand herausfand, daß man sich in den Hüten auch in einen See
setzen kann. "Hey", rief er, in den Grunzlauten, die damals in Mode waren, "die
Dinger schwimmen ja!" Aus allen Richtungen kamen Leute mit Kanuhüten heran und
staunten. Dann machten sie dem Erfinder ein Loch in seinen schwimmenden Hut und versenkten ihn, denn
Traditionen sind wichtig und dürfen nicht so einfach umgeworfen werden.
Nichts von all dem denke ich natürlich im Wald. Trägt man ein
Kanu durch den Wald, denkt man nur: Wurzel. Stein. Wurzel. Au. Stein. Au.
Wurzel. Au. Au. Wurzel. Stein. Stein. Da. Endlich. Dann stößt man das
Kanu laut irgendwo an beim Versuch es abzusetzen, denkt "jetzt ist es kaputt,
wir werden sterben", stellt fest, daß es doch noch schwimmt, lädt das
Gepäck ein und fährt davon.
Die weitere Route führt uns durch zwei hübsche und sehr menschenleere
Seen, die Little Otterslide Lake und Otterslide Lake heißen. Die Thujas am Ufer
sind soweit das Auge reicht bis in etwa 3 Meter Höhe kahlgefressen: Moose. Das
Fortkommen erschwert uns aber zunächst ein etwas kleinerer Säuger. Der Kanal
zwischen den beiden Seen nämlich ist auf ganzer Breite abgeriegelt. Biberwerk.
Glücklicherweise ist der Damm solide, wir schieben das Kanu stückweise über die
niedrigste Stelle und paddeln in den malerischen Kanal, in dem sich, erstmals an
diesem Tag, sogar die Sonne zeigt. Erhebliche Aufregung löst bei uns ein
riesiger Frosch aus, der träge am Ufer dümpelt und äußerst stoisch die
vorsichtigen Annäherungsversuche über sich ergehen läßt. Wir paddeln lautlos
minutenlang, bis das Kanu ideal steht, die Sonne unter dem rechten Winkel
scheint und der Frosch mal nicht blinzelt. Dann schlägt der Verschluß zu und die
Seele des Amphibs ist im Kasten.
Bei der Ankunft am See treibt mitten im See erneut eine Loon und mustert
uns aufmerksam. Schließlich fällt das Tier eine Entscheidung, sperrt den langen,
spitzen Schnabel auf und lacht. Es ist kein menschliches Lachen, sie lacht uns
nicht aus und sie lacht uns nicht an. Es ist das Lachen des großen Geists des
Nordens, ein Naturereignis, keine Emotionsäußerung, aber wir lächeln dennoch
respektvoll zurück. Fast jedes Buch, jeder Text über diese Landschaft schreibt es, und
schon nach diesen wenigen Tagen wissen wir, wie sehr es stimmt: wer die Loon
rufen gehört hat auf diesen Seen, der sieht sie mit anderen Augen. Es ist ein
verlorener Ruf, von den Ufern zurückgeworfen trägt er weit, aber beruhigend
zugleich. Die Loon ist Herrin über diese Gewässer, länger als der Mensch sie
kennt. Und so ist es gut.
Das Zelt schlagen wir direkt über dem Wasser auf, am Rande eines lichten
Kiefernwaldes. Die Iren wohnen gegenüber, kaum einen Kilometer entfernt, wir
haben ihr Kanu beim Vorbeipaddeln gesehen. Mit Kakao und Obstbrand nebeln wir
uns nach dem Chili con Carne am Abend angenehm ein; als die Sonne schließlich
versinkt, verliert der Wald langsam seine abweisende Ausstrahlung, erwacht zu
einem stillen Leben und ich fühle mich wohl.
Nachts erwache ich irgendwann, öffne mechanisch die Zelttür und strecke
den Kopf hinaus. Ich sehe Sterne und die Silhouetten der Bäume. Der See
platscht. "Aha. Dunkel", denke ich, ziehe den Kopf wieder ein und schlafe weiter.
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