10 Big Trout Lake - White Trout Lake


In einer Stadt ist Einsamkeit eine dunkle Wolke in der Seele, eine drückende Last, ist dauerhafte Melancholie, und was der dämlichen Psychoratgebermetaphern noch mehr sind. Hier, an diesem stillen Seeufer, ist Einsamkeit etwas anderes. Sie ist körperlich spürbar, als Loch in der Welt, an der Stelle, an der früher die anderen waren. Die anderen, das ist die Masse, deren Gegenwart einem selten bewußt wird, und wenn, dann unangenehm. Ein ähnliches Loch spürt man nachts in öffentlichen Gebäuden, aber das Loch hier ist tiefer. Bodenlos.
In der Physik gibt es den Dirac-See, ein unsichtbares Meer voller Teilchen negativer Energie. Steckt man Energie in den Dirac-See, steigt eines der Teilchen auf und wird sichtbar, und die Lücke, die es im See hinterläßt, wird sichtbar als Antiteilchen. Stürzt das Teilchen in die Lücke zurück, verschwinden beide wieder unter einem Energieblitz.
Diese Landschaft, dieser See hier ist voller Antimenschen, man kann die Lücken körperlich spüren, als Sog. Gäben wir ihm nach, wir verschwänden als hätte es uns nie gegeben.

Geben wir aber nicht. Stattdessen gibt es Frühstück, ein Omelette aus Omelettepulver und kartoffelfarbene Kunststoffstreifen. Der Kaffee sorgt für ein lustiges Brummen im Ohr, vielleicht haben wir auch schlecht geschlafen, aber dann wird das Brummen schnell lauter, nähert sich von hinter dem Busch, bricht aus ihm hervor, schwebt, rasend, flirrend, über der Feuerstelle, schwirrt ebenso rasant davon, über den See weg dem Ufer zu, und war ein grünschillernder Kolibri.
Unsere Aufregung legt sich erst, als wir beim Gang über die Insel im Tageslicht fünfzig Meter von der Feuerstelle entfernt Grabspuren finden, eine ausgegrabene, schwarze Bananenschale, und einige Meter davon entfernt Bärenspuren im Ufersand. Erst ein paar Tage kann es her sein, daß hier ein Bär nach Futter suchte. Unseren Schreck geben wir, nur wenig gebraucht, an die Ablösung weiter, die auf der Insel anlandet, als wir ablegen. Das andere Paar ist nicht begeistert, schlägt aber trotzdem sein Zelt auf.



Die Fahrt durch Big Trout Lake ist trist. Nichts ist zu sehen außer dem Wasser, einem grünen Streifen, dort, wo das Wasser endet, und dem verhangenen Himmel darüber. Niemand begegnet uns, als wir Big Trout Lake verlassen. Wir haben den Punkt der größten Entfernung von der Basis erreicht. Es sieht nicht anders aus als überall sonst hier, obwohl doch auf der Karte die Route hier kippt, sich schlagartig von einem hin zu einem zurück wandelt. Bei genauem Besehen wandelt sie sich doch, die Bäume werden düsterer, die Ufer rücken näher.



Der Zeltplatz am White Trout Lake ist eine kahle Stelle am Ufer, Borkenkäfer haben etliche große Bäume zernagt, arabeske Fraßspuren überziehen die gestapelten Stämme, Insektenschrift, unlesbar wie viele Handschriften heutzutage. Wir haben etwas Zeit vor dem Abendessen, paddeln deswegen hinaus auf den See, ich werfe die Angel aus, mehr aus Neugier als echter Hoffnung auf einen Fang. Während wir driften, nähert sich ein einsamer Paddler, mit Waldmenschenbart, erkundigt sich nach freien Campingplätzen in der Umgebung, karge Worte, gerufen über vielleicht hundert Meter Wasser hinweg, und entfernt sich wieder. Alleine hier - ich glaube ich würde wunderlich.



Zum Abendessen sehen wir der Sonne zu, wie sie hinter den Bäumen verschwindet, schöne Farben macht das. Vor einigen Jahren las ich die Heliconia-Trilogie von Brian Aldiss, einen Science Fiction Roman, in dem ein Planet in einem jahrhundertelangen Winter versinkt, aus astronomischen Gründen. Aldiss vermittelte mir Respekt vor Kälte und Nahrungsmangel und vor dem Winter. Fünf Tage hier im Park bewirkten dasselbe für den Sonnenuntergang. So beginnt die grimmige Finsternis, das weiß ich jetzt. Wer den schönen Farben glaubt, ist selber doof.

Um unser Zelt raschelt es laut in der Nacht. Wir sehen nicht nach.

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