In einer Stadt ist Einsamkeit eine dunkle Wolke in der Seele, eine
drückende Last, ist dauerhafte Melancholie, und was der dämlichen
Psychoratgebermetaphern noch mehr sind. Hier, an diesem stillen Seeufer, ist
Einsamkeit etwas anderes. Sie ist körperlich spürbar, als Loch in der Welt, an der Stelle, an der
früher die anderen waren. Die anderen, das ist die Masse, deren Gegenwart
einem selten bewußt wird, und wenn, dann unangenehm. Ein ähnliches
Loch spürt man nachts in öffentlichen Gebäuden, aber das Loch
hier ist tiefer. Bodenlos.
In der Physik gibt es den Dirac-See, ein unsichtbares Meer voller Teilchen
negativer Energie. Steckt man Energie in den Dirac-See, steigt eines der
Teilchen auf und wird sichtbar, und die Lücke, die es im See
hinterläßt, wird sichtbar als Antiteilchen. Stürzt das Teilchen
in die Lücke zurück, verschwinden beide wieder unter einem
Energieblitz.
Diese Landschaft, dieser See hier ist voller Antimenschen, man kann die
Lücken körperlich spüren, als Sog. Gäben wir ihm nach, wir
verschwänden als hätte es uns nie gegeben.
Geben wir aber nicht. Stattdessen gibt es Frühstück, ein
Omelette aus Omelettepulver und kartoffelfarbene Kunststoffstreifen. Der Kaffee
sorgt für ein lustiges Brummen im Ohr, vielleicht haben wir auch schlecht
geschlafen, aber dann wird das Brummen schnell lauter, nähert sich von
hinter dem Busch, bricht aus ihm hervor, schwebt, rasend, flirrend, über
der Feuerstelle, schwirrt ebenso rasant davon, über den See weg dem Ufer
zu, und war ein grünschillernder Kolibri.
Unsere Aufregung legt sich erst, als wir beim Gang über die Insel im
Tageslicht fünfzig Meter von der Feuerstelle entfernt Grabspuren finden,
eine ausgegrabene, schwarze Bananenschale, und einige Meter davon entfernt
Bärenspuren im Ufersand. Erst ein paar Tage kann es her sein, daß
hier ein Bär nach Futter suchte. Unseren Schreck geben wir, nur wenig
gebraucht, an die Ablösung weiter, die auf der Insel anlandet, als wir
ablegen. Das andere Paar ist nicht begeistert, schlägt aber trotzdem sein
Zelt auf.
Die Fahrt durch Big Trout Lake ist trist. Nichts ist zu sehen außer
dem Wasser, einem grünen Streifen, dort, wo das Wasser endet, und dem
verhangenen Himmel darüber. Niemand begegnet uns, als wir Big Trout Lake
verlassen. Wir haben den Punkt der größten Entfernung von der Basis
erreicht. Es sieht nicht anders aus als überall sonst hier, obwohl doch auf
der Karte die Route hier kippt, sich schlagartig von einem hin zu einem
zurück wandelt. Bei genauem Besehen wandelt sie sich doch, die Bäume
werden düsterer, die Ufer rücken näher.
Der Zeltplatz am White Trout Lake ist eine kahle Stelle am Ufer,
Borkenkäfer haben etliche große Bäume zernagt, arabeske
Fraßspuren überziehen die gestapelten Stämme, Insektenschrift,
unlesbar wie viele Handschriften heutzutage. Wir haben etwas Zeit vor dem
Abendessen, paddeln deswegen hinaus auf den See, ich werfe die Angel aus, mehr
aus Neugier als echter Hoffnung auf einen Fang. Während wir driften,
nähert sich ein einsamer Paddler, mit Waldmenschenbart, erkundigt sich nach
freien Campingplätzen in der Umgebung, karge Worte, gerufen über
vielleicht hundert Meter Wasser hinweg, und entfernt sich wieder. Alleine hier -
ich glaube ich würde wunderlich.
Zum Abendessen sehen wir der Sonne zu, wie sie hinter den Bäumen verschwindet,
schöne Farben macht das. Vor einigen Jahren las ich die Heliconia-Trilogie von
Brian Aldiss, einen Science Fiction Roman, in dem ein Planet in einem
jahrhundertelangen Winter versinkt, aus astronomischen Gründen. Aldiss
vermittelte mir Respekt vor Kälte und Nahrungsmangel und vor dem Winter. Fünf
Tage hier im Park bewirkten dasselbe für den Sonnenuntergang. So beginnt die
grimmige Finsternis, das weiß ich jetzt. Wer den schönen Farben glaubt, ist
selber doof.
Um unser Zelt raschelt es laut in der Nacht. Wir sehen nicht
nach.
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