Heute ist ein besonderer Tag, man spürt es im Wasser und der Luft. Nicht,
weil schon wieder ein Kolibri durchs Lager brauste, während wir aus
Tütenpulver und Seewasser leidlich essbare Breie und Krusten bereiteten,
und auch nicht, weil ein Streifenhörnchen durchs Gebüsch flitzte, aus
dem Blechnapf frass und schließlich für Landschaftsfotografie
posierte.
Nein, heute ist ein besonderer Tag, weil wir zum ersten und einzigen Mal das
Wasser verlassen und zu einer Wanderung in den Wald aufbrechen wollen. Das sah
vor einigen Wochen, beim Planen, noch harmlos aus, die Route führte eben über ein
grünes Stück Landkarte statt ein blaues. Aber wir haben mittlerweile etliche Portagen
hinter uns. Wir haben Respekt vor dem Wald. Völlig zu recht, wie sich zeigen
wird.
Die Idee zu diesem Ausflug stammt aus einem alten Parkführer. Zu einer Zeit,
die selbst in dieses angegilbte Buch zu nostalgischen Formulierungen hinreisst,
und in der noch keine Überwachungsflugzeuge über dem Park kreisten, stand auf
einem Hügel ein Feuerturm. Ein Ranger stieg bei trockenem Wetter zu diesem Turm
hinauf und verbrachte seine Tage damit, nach Rauchzeichen zu suchen. Der Ranger
steigt heutzutage natürlich nicht mehr, aber der Turm steht noch, und der
Ausblick, sagt der Führer, ist fantastisch. Alles werden wir sehen können,
Wasser, Bäume, Himmel. Es wird traumhaft sein.
Während wir
packen, hören wir laute Geräusche im Wald, Zweige brechen, dumpfe
Schritte auf dem federnden Boden. Ich laufe los, vielleicht dreißig Meter
weit ins Unterholz folge ich, aber der Wendigo ist schneller und kennt sich hier wohl auch
besser aus.
Wir lassen das Kanu zu Wasser, wuchten unsere
Rucksäcke hinein und legen ab. Nur ein paar hundert Meter weit müssen
wir paddeln, am Südufer von White Trout Lake steht eine Rangerhütte,
dort beginnt der Weg zum Turm. Steht im Führer. Als wir das Ufer fast
erreicht haben, blicke ich vom Paddel auf, gucke mir das Ufer an, und finde im
Schreck meine Finger nicht. Zwei große Moose stehen am Ufer und gucken uns
wachsam an, groteske Schnauzen und viel zu große Ohren, dann kommen wir
ihnen zu nahe - ach, da sind die Finger - sie drehen um - und da ist die Kamera
- und ich fotografiere Moosehintern im Abgang. Ein Stück entfernt landen
wir und suchen nach dem Waldweg zum Turm.
Nach fünf Minuten geben wir vorerst ratlos auf. Der Waldrand ist nah
am Ufer, die Lichtung um die Rangerhütte herum ist überschaubar, und
nirgendwo ist der Weg zu erkennen. Kein Schild weist zum Feuerturm. Nichts. Die Rangerhütte ist verlassen, ein Kanu liegt vertäut und
angekettet davor, ein kurzer Pfad führt ein paar Meter in den Wald zum
Außenklo, das von dichtem Gebüsch umstanden ist. Nach dem zweiten
Rundgang um die Hütte, in der wir noch immer nicht den Anfang zur
Waldautobahn Richtung Turm finden konnten, dämmert die Erkenntnis, das die
kaum sichtbare Lücke im Gebüsch am Klohäuschen der Anfang des
Weges sein könnte. Ich schlage mich durch schulterhohes Dickicht, das nach
ein paar Metern endet, und tatsächlich: dort im Meer der kniehohen
Ahornschößlinge gibt es eine schmale Lücke: den Trampelpfad zum
Turm. Wir packen unseren Lunch ein, eine Landkarte, den Kompaß, die
Messer. Den Rest lassen wir am Kanu.
Der Weg ist nur erkennbar, wenn man direkt auf ihm steht, und auch dann
meist nur als fast unmerkliche Ausdünnung des Unterholzes. Besonders
schwierig wird es, wo Senken im Berghang für Bodennässe sorgen und
nicht viel wächst. Mehr als einmal in den ersten Minuten verlaufen wir uns,
gehen zurück, bis wir den Weg wiederfinden, bis wir langsam lernen, die
spärlichen Anzeichen zu deuten wie ein sehr schlechter Fährtenleser.
Eine Stunde soll der Aufstieg zum Turm dauern, nach drei Stunden, um 14 Uhr,
sollten wir also zurück am See sein können. Mehr als genug Zeit, noch
den Campingplatz einige Kilometer seeabwärts zu erreichen, ehe die
Dämmerung die Orientierung unmöglich macht. Denken wir.
Der Wald wirkt, abgesehen vom schmalen Band zu unseren Füßen,
unberührt. In Wahrheit wurde die gesamte Fläche des Parkes zur
Hochzeit der Holzfällerei durchgeholzt. Vor etwa hundert Jahren war diese
Bergflanke kahl. Heute blockieren die Wipfel die grelle Spätsommersonne, es
ist kühl und still hier. Nur das Bärenglöckchen läutet.
Dinnerbell, denke ich, aber sorge mich mehr, daß wir den Weg verlieren,
diesen Weg, den man nur drei Meter zu verlassen braucht, um ihn nicht mehr zu
sehen.
Frau H hingegen hat Bärenangst, schnitzt aus einem toten Ast einen
Speer, klingelt laut bei jedem Schritt, und entwickelt Anzeichen von Panik, je
weiter wir vorankommen. Wieder einmal scheint der Weg verloren, wir gehen in
Kreisen, bis wir ihn wiederfinden, seltsamerweise führt diese Fortsetzung
leicht bergab. Sie scheint auch weniger bewandert zu sein als der Weg bisher,
führt hart an jungen Tannen vorbei, die Zweige schlagen uns ins Gesicht.
Der Weg macht jetzt scharfe Wendungen und plötzlich, auf einer winzigen
Lichtung, ist er verschwunden. Brusthohe, blühende Gräser umgeben uns.
Kein Weg, nirgends. Dafür Elchkot in einer Schlammpfütze. Ein
Tierpfad.
Es dauert fast fünfzehn Minuten, bis wir die Stelle wiederfinden, an
der wir vom Weg abkamen. Seit dem Aufbruch ist mehr als eine Stunde vergangen,
vom Turm ist nichts zu sehen, beinahe hätten wir uns verlaufen. Frau H will
umkehren, raus aus diesem Wald. Sofort. Es kann nicht mehr weit sein, sage ich,
und versuche Karte, Kompaß und Topographie in Einklang zu bringen. Noch
fünfhundert Meter vielleicht. Wir finden den Weg wieder, dreißig
Meter entfernt, jenseits einer niedrigen Kuppe, führt er in dieselbe
Richtung wie bisher, und gehen weiter.
Nach einer weiteren Viertelstunde kommt es zum Streit. Frau H ist
mittlerweile einer Panik nahe, der Wald erdrückt sie, sie fühlt sich
gefangen und hilflos. Ich glaube immer noch, daß wir nur Minuten vom Ziel
entfernt sein können, und will auf keinen Fall umkehren. Aber die
Erinnerung an meine eigene Panikattacke, im Zelt vor vier Tagen, macht mir ein
schlechtes Gewissen -- würde ich auch weitergehen, wenn ich selbst echte
Angst hätte und nicht nur bedrückende Stille spürte? Dieser
Zwiespalt macht mich meine Position schärfer vertreten, als ich sonst
würde. Wir gehen weiter. Der Weg wird steiler, der Granit tritt an die
Oberfläche, nur eine dünne Erdschicht liegt. Hier ausrutschen und sich
den Knöchel verstauchen oder gar ein Bein brechen -- tief im Wald,
fünf Tagesreisen von der nächsten Straße entfernt -- die
Vorstellung macht vorsichtig.
Nach eineinhalb Stunden sehen wir einige Schienen, quer durch den Wald,
vielleicht einen Rest aus Zeiten der Holzfällerei, treten wenig später
auf eine kleine Lichtung, zehn mal zehn Meter groß vielleicht, und ich
lache, herzlich. Der Feuerturm liegt angerostet auf der Seite, so wie er fiel in
einem Sturm vor vielen Jahren. Wir sind zu einer Ruine gewandert.
Wir essen dort am Turmwrack, was wir mitgebracht haben, um uns eine
undurchsichtige Wand aus Wald statt eines traumhaften Ausblicks, dann machen wir
uns an den Abstieg. Wir brauchen 40 Minuten dafür. Frau H legt ein
beachtliches Tempo vor beim Waldverlassen und sticht mit ihrem Speer dynamisch
in die Erde. Sie hat ihn umgedreht, um sich bei einem Sturz nicht selbst
aufzuspießen. Daß die Spitze stumpf wird und sie gegen den
Bären nicht mehr so gut zu schützen vermöchte, nimmt sie
knirschend in Kauf.
Zurück am Ufer machen wir in aller Ruhe das Kanu fertig, wir sind
etwas später dran als geplant, haben aber trotzdem reichlich Zeit. Wir
jagen einen Frosch rund ums Kanu, schließlich laden wir ein und legen ab.
Kaum sind wir einige Meter gepaddelt, sehen wir sie: eine Moosekuh und ihr Kalb
stehen am Ufer, keine vierzig Meter entfernt von der Stelle, an der wir grade
noch packten. Mißtrauisch beäugt uns die Kuh, wir erinnern uns an
Erzählungen von Angriffen und daran, daß diese Tiere, ihrer
schwerfälligen Erscheinung zum Trotz, gewandte Schwimmer sind, und
erpaddeln uns einen Sicherheitsabstand.
Wir biegen mit dem Kanu um eine Baumgruppe, und mitten in einen strammen
Nachmittagswestwind. Wir paddeln schnell und hart, der Heavy Metal unter den
Paddelstilen, und die Wasseroberfläche rast an der Bordwand vorbei, aber
blicken wir auf, hat sich das Ufer kaum bewegt. Zwei Campingplätze haben
wir heute zur Auswahl, der eine zwei Kilometer weiter entfernt als der andere,
aber als wir den ersten erreicht haben, sind wir schon so erschöpft,
daß wir anlegen müssen, in der Hoffnung, der Gegenwind lege sich
über Nacht.
Der Campingplatz liegt auf einer Halbinsel, dicht mit Tannen bestanden
und benadelt. Hilflos versuche ich mich am Ufer wieder an der Fischerei, fange
einen winzigen Fisch, der mir leidtut, und einen Blutegel am Bein, der mir nicht
leidtut. Den Fisch werfe ich zurück, aber leider wissen wir Stadtkinder
nicht mit einem Blutegel umzugehen. Ich erinnere mich, daß man sie nicht
abnehmen soll, weil sonst die Egelzähne in der Wunde bleiben und lasse den
Wurm also notgedrungen gewähren. Als er nach einer halben Stunde endlich
abfällt, fällt er ins Kanu, wo ich ihn prompt und versehentlich - ich
schwöre, Herr Richter! - zu einem Blutfleck zertrete.
Dann fällt die Nacht wie Blei und wir in tiefen Schlaf.
P.S. Blutegel bestreue man mit Salz, hörte ich nach der
Rückkehr. Dann lassen sie die Waffe fallen, kommen raus und geben auf.
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