11 White Trout Lake - Grassy Bay


Heute ist ein besonderer Tag, man spürt es im Wasser und der Luft. Nicht, weil schon wieder ein Kolibri durchs Lager brauste, während wir aus Tütenpulver und Seewasser leidlich essbare Breie und Krusten bereiteten, und auch nicht, weil ein Streifenhörnchen durchs Gebüsch flitzte, aus dem Blechnapf frass und schließlich für Landschaftsfotografie posierte.



Nein, heute ist ein besonderer Tag, weil wir zum ersten und einzigen Mal das Wasser verlassen und zu einer Wanderung in den Wald aufbrechen wollen. Das sah vor einigen Wochen, beim Planen, noch harmlos aus, die Route führte eben über ein grünes Stück Landkarte statt ein blaues. Aber wir haben mittlerweile etliche Portagen hinter uns. Wir haben Respekt vor dem Wald. Völlig zu recht, wie sich zeigen wird.

Die Idee zu diesem Ausflug stammt aus einem alten Parkführer. Zu einer Zeit, die selbst in dieses angegilbte Buch zu nostalgischen Formulierungen hinreisst, und in der noch keine Überwachungsflugzeuge über dem Park kreisten, stand auf einem Hügel ein Feuerturm. Ein Ranger stieg bei trockenem Wetter zu diesem Turm hinauf und verbrachte seine Tage damit, nach Rauchzeichen zu suchen. Der Ranger steigt heutzutage natürlich nicht mehr, aber der Turm steht noch, und der Ausblick, sagt der Führer, ist fantastisch. Alles werden wir sehen können, Wasser, Bäume, Himmel. Es wird traumhaft sein.

Während wir packen, hören wir laute Geräusche im Wald, Zweige brechen, dumpfe Schritte auf dem federnden Boden. Ich laufe los, vielleicht dreißig Meter weit ins Unterholz folge ich, aber der Wendigo ist schneller und kennt sich hier wohl auch besser aus.

Wir lassen das Kanu zu Wasser, wuchten unsere Rucksäcke hinein und legen ab. Nur ein paar hundert Meter weit müssen wir paddeln, am Südufer von White Trout Lake steht eine Rangerhütte, dort beginnt der Weg zum Turm. Steht im Führer. Als wir das Ufer fast erreicht haben, blicke ich vom Paddel auf, gucke mir das Ufer an, und finde im Schreck meine Finger nicht. Zwei große Moose stehen am Ufer und gucken uns wachsam an, groteske Schnauzen und viel zu große Ohren, dann kommen wir ihnen zu nahe - ach, da sind die Finger - sie drehen um - und da ist die Kamera - und ich fotografiere Moosehintern im Abgang. Ein Stück entfernt landen wir und suchen nach dem Waldweg zum Turm.

Nach fünf Minuten geben wir vorerst ratlos auf. Der Waldrand ist nah am Ufer, die Lichtung um die Rangerhütte herum ist überschaubar, und nirgendwo ist der Weg zu erkennen. Kein Schild weist zum Feuerturm. Nichts.
Die Rangerhütte ist verlassen, ein Kanu liegt vertäut und angekettet davor, ein kurzer Pfad führt ein paar Meter in den Wald zum Außenklo, das von dichtem Gebüsch umstanden ist. Nach dem zweiten Rundgang um die Hütte, in der wir noch immer nicht den Anfang zur Waldautobahn Richtung Turm finden konnten, dämmert die Erkenntnis, das die kaum sichtbare Lücke im Gebüsch am Klohäuschen der Anfang des Weges sein könnte. Ich schlage mich durch schulterhohes Dickicht, das nach ein paar Metern endet, und tatsächlich: dort im Meer der kniehohen Ahornschößlinge gibt es eine schmale Lücke: den Trampelpfad zum Turm. Wir packen unseren Lunch ein, eine Landkarte, den Kompaß, die Messer. Den Rest lassen wir am Kanu.

Der Weg ist nur erkennbar, wenn man direkt auf ihm steht, und auch dann meist nur als fast unmerkliche Ausdünnung des Unterholzes. Besonders schwierig wird es, wo Senken im Berghang für Bodennässe sorgen und nicht viel wächst. Mehr als einmal in den ersten Minuten verlaufen wir uns, gehen zurück, bis wir den Weg wiederfinden, bis wir langsam lernen, die spärlichen Anzeichen zu deuten wie ein sehr schlechter Fährtenleser. Eine Stunde soll der Aufstieg zum Turm dauern, nach drei Stunden, um 14 Uhr, sollten wir also zurück am See sein können. Mehr als genug Zeit, noch den Campingplatz einige Kilometer seeabwärts zu erreichen, ehe die Dämmerung die Orientierung unmöglich macht. Denken wir.

Der Wald wirkt, abgesehen vom schmalen Band zu unseren Füßen, unberührt. In Wahrheit wurde die gesamte Fläche des Parkes zur Hochzeit der Holzfällerei durchgeholzt. Vor etwa hundert Jahren war diese Bergflanke kahl. Heute blockieren die Wipfel die grelle Spätsommersonne, es ist kühl und still hier. Nur das Bärenglöckchen läutet. Dinnerbell, denke ich, aber sorge mich mehr, daß wir den Weg verlieren, diesen Weg, den man nur drei Meter zu verlassen braucht, um ihn nicht mehr zu sehen.

Frau H hingegen hat Bärenangst, schnitzt aus einem toten Ast einen Speer, klingelt laut bei jedem Schritt, und entwickelt Anzeichen von Panik, je weiter wir vorankommen. Wieder einmal scheint der Weg verloren, wir gehen in Kreisen, bis wir ihn wiederfinden, seltsamerweise führt diese Fortsetzung leicht bergab. Sie scheint auch weniger bewandert zu sein als der Weg bisher, führt hart an jungen Tannen vorbei, die Zweige schlagen uns ins Gesicht. Der Weg macht jetzt scharfe Wendungen und plötzlich, auf einer winzigen Lichtung, ist er verschwunden. Brusthohe, blühende Gräser umgeben uns. Kein Weg, nirgends. Dafür Elchkot in einer Schlammpfütze. Ein Tierpfad.



Es dauert fast fünfzehn Minuten, bis wir die Stelle wiederfinden, an der wir vom Weg abkamen. Seit dem Aufbruch ist mehr als eine Stunde vergangen, vom Turm ist nichts zu sehen, beinahe hätten wir uns verlaufen. Frau H will umkehren, raus aus diesem Wald. Sofort. Es kann nicht mehr weit sein, sage ich, und versuche Karte, Kompaß und Topographie in Einklang zu bringen. Noch fünfhundert Meter vielleicht. Wir finden den Weg wieder, dreißig Meter entfernt, jenseits einer niedrigen Kuppe, führt er in dieselbe Richtung wie bisher, und gehen weiter.

Nach einer weiteren Viertelstunde kommt es zum Streit. Frau H ist mittlerweile einer Panik nahe, der Wald erdrückt sie, sie fühlt sich gefangen und hilflos. Ich glaube immer noch, daß wir nur Minuten vom Ziel entfernt sein können, und will auf keinen Fall umkehren. Aber die Erinnerung an meine eigene Panikattacke, im Zelt vor vier Tagen, macht mir ein schlechtes Gewissen -- würde ich auch weitergehen, wenn ich selbst echte Angst hätte und nicht nur bedrückende Stille spürte? Dieser Zwiespalt macht mich meine Position schärfer vertreten, als ich sonst würde. Wir gehen weiter. Der Weg wird steiler, der Granit tritt an die Oberfläche, nur eine dünne Erdschicht liegt. Hier ausrutschen und sich den Knöchel verstauchen oder gar ein Bein brechen -- tief im Wald, fünf Tagesreisen von der nächsten Straße entfernt -- die Vorstellung macht vorsichtig.

Nach eineinhalb Stunden sehen wir einige Schienen, quer durch den Wald, vielleicht einen Rest aus Zeiten der Holzfällerei, treten wenig später auf eine kleine Lichtung, zehn mal zehn Meter groß vielleicht, und ich lache, herzlich. Der Feuerturm liegt angerostet auf der Seite, so wie er fiel in einem Sturm vor vielen Jahren. Wir sind zu einer Ruine gewandert.



Wir essen dort am Turmwrack, was wir mitgebracht haben, um uns eine undurchsichtige Wand aus Wald statt eines traumhaften Ausblicks, dann machen wir uns an den Abstieg. Wir brauchen 40 Minuten dafür. Frau H legt ein beachtliches Tempo vor beim Waldverlassen und sticht mit ihrem Speer dynamisch in die Erde. Sie hat ihn umgedreht, um sich bei einem Sturz nicht selbst aufzuspießen. Daß die Spitze stumpf wird und sie gegen den Bären nicht mehr so gut zu schützen vermöchte, nimmt sie knirschend in Kauf.

Zurück am Ufer machen wir in aller Ruhe das Kanu fertig, wir sind etwas später dran als geplant, haben aber trotzdem reichlich Zeit. Wir jagen einen Frosch rund ums Kanu, schließlich laden wir ein und legen ab. Kaum sind wir einige Meter gepaddelt, sehen wir sie: eine Moosekuh und ihr Kalb stehen am Ufer, keine vierzig Meter entfernt von der Stelle, an der wir grade noch packten. Mißtrauisch beäugt uns die Kuh, wir erinnern uns an Erzählungen von Angriffen und daran, daß diese Tiere, ihrer schwerfälligen Erscheinung zum Trotz, gewandte Schwimmer sind, und erpaddeln uns einen Sicherheitsabstand.



Wir biegen mit dem Kanu um eine Baumgruppe, und mitten in einen strammen Nachmittagswestwind. Wir paddeln schnell und hart, der Heavy Metal unter den Paddelstilen, und die Wasseroberfläche rast an der Bordwand vorbei, aber blicken wir auf, hat sich das Ufer kaum bewegt. Zwei Campingplätze haben wir heute zur Auswahl, der eine zwei Kilometer weiter entfernt als der andere, aber als wir den ersten erreicht haben, sind wir schon so erschöpft, daß wir anlegen müssen, in der Hoffnung, der Gegenwind lege sich über Nacht.

Der Campingplatz liegt auf einer Halbinsel, dicht mit Tannen bestanden und benadelt. Hilflos versuche ich mich am Ufer wieder an der Fischerei, fange einen winzigen Fisch, der mir leidtut, und einen Blutegel am Bein, der mir nicht leidtut. Den Fisch werfe ich zurück, aber leider wissen wir Stadtkinder nicht mit einem Blutegel umzugehen. Ich erinnere mich, daß man sie nicht abnehmen soll, weil sonst die Egelzähne in der Wunde bleiben und lasse den Wurm also notgedrungen gewähren. Als er nach einer halben Stunde endlich abfällt, fällt er ins Kanu, wo ich ihn prompt und versehentlich - ich schwöre, Herr Richter! - zu einem Blutfleck zertrete.

Dann fällt die Nacht wie Blei und wir in tiefen Schlaf.



P.S. Blutegel bestreue man mit Salz, hörte ich nach der Rückkehr. Dann lassen sie die Waffe fallen, kommen raus und geben auf.

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