Als wir nach einer ruhigen Nacht unseren Essensrucksack bergen, kriecht gerade
die Morgensonne über die Baumwipfel. Himmel und Wasser leuchten buttergelb,
Bäume und Schilf bilden zarte Scherenschnittmuster. Es ist völlig
windstill. Wir frühstücken und packen dann eilig zusammen. Grassy Bay
steht in dem Ruf, der beste Elchbeobachtungsplatz im gesamten Park zu sein; den
Elchen wiederum sagt man nach, dass sie mit Vorliebe frühmorgens an den
Ufern Ballett tanzen. Dieses Schauspiel wollen wir uns nicht entgehen lassen.
Wir sind dabei, das Boot zu beladen, als vertraute Geräusche an unsere
Ohren dringen: das unmissverständliche "Klonk" von Paddeln an
Bordwänden, laute Stimmen, Gelächter. Der Zeltplatz liegt an einer der
Hauptverkehrsadern des Parks, hier muss vorbei, wer auf der beliebten,
"Main Street" genannten Route nach Westen paddelt oder auf dem
Petawawa River nach Norden flüchtet. Unsere Stimmung ist mittlerweile
längst wieder ins Einsiedlerische gekippt, düsteren Blickes sehen wir
die drei Kanus mit ihren Insassen, kernigen kanadischen Jungmännern,
vorbeiziehen. Bis sie ausser Hörweite sind, vergehen kostbare Minuten, die
Sonne steht mittlerweile schon recht hoch am Himmel. Wir haben gerade abgelegt,
als sich auch schon eine weitere Kanuflotte hinter uns bemerkbar macht.
Schneller als sonst paddeln wir gegen den aufkommenden Wind an und hoffen,
unsere Verfolger auf Abstand halten zu können.
Wenn wir am Vortag den alten Parkführer zum Feuerturm mitgenommen oder
uns seinen Inhalt gemerkt hätten, wir hätten, als wir an den Ruinen
lunchten, nicht nur stumpf auf den Trampelpfad gestarrt, der vom Turm aus nach
Westen führt und "Aha, Trampelpfad" gedacht, wir hätten
vielmehr gewusst, daß dieser Pfad nach 100 Metern an einem Steilhang
endet, von dem aus sich uns eine herrliche Aussicht geboten hätte, und wir
hätten sehen können, was uns erst jetzt auffällt: Grassy Bay hat
eine Fahrrinne, die sich zwischen Schilf, Schlingpflanzen und Inseln mit
weißen Baumskeletten hindurchschlängelt. Der benachbarte Zeltplatz
ist daher viel weiter entfernt, als die Karte vermuten ließ; bei den
gestrigen Windverhältnissen hätten wir nicht erreichen
können.
Auch heute kommen wir wegen des Windes nur langsam voran, was blöd ist,
denn die Elche haben sich offenbar längst in die schattigen Wälder
zurückgezogen. Nur die Fraßlinie an den Thujabäumen zeugt von
ihrer Anwesenheit. So vergehen zwei ereignislose Stunden zähen Gepaddels,
bis endlich die Ufer zu beiden Seiten näher rücken, ein Zeichen, dass
die erste Portage des Tages nicht mehr weit ist. Die Fahrrinne führt durch
dichte Teppiche von Pickerelweed, die blauvioletten, zigarrenförmigen
Blütenstände sind kurz vorm Verblühen. Plötzlich bewegt sich
etwas zwischen den Blüten, es schillert grün und fliegt so schnell,
dass es fast nicht zu erkennen ist, aber einen Moment lang steht er in der Luft,
der Kolibri. Er tankt hier noch einmal, bevor die letzten Nektarquellen
versiegen und er sich auf seinen langen Flug nach Südamerika macht, wo er
den Winter verbringen wird. Erst im Mai wird man ihn wieder im Park bewundern
können.
Während das winzige Vögelchen vielleicht gerade darüber
nachgrübelt, ob und wie es den 800-Kilometer-Nonstopflug über den Golf
von Mexiko diesmal schaffen wird, stehen wir vor dem vergleichsweise kleinen
Problem, unser Kanu über den soundsovielten Biberdamm hieven zu
müssen. Zwei Kanus voll mit alten Wildnishasen überholen uns
unterdessen und verschwinden mit demütigender Geschwindigkeit hinter dem
Damm. Kurz darauf folgen wir und legen wenig später an der Portage an.
Während wir unser Gepäck ausladen, müssen wir mit anhören,
wie ein Parkführer vor einem Paar mit der Ausbeute des Morgens prahlt: Er
habe mehrere Otter gesichtet, die einen Biber neckten, sowie einen Bären,
der eine Lichtung überquerte, einen stattlichen Burschen, sein Fell habe
golden geleuchtet in der Sonne.
Unterdessen packen wir um, wir wollen die Portage diesmal in einem Durchgang
schaffen, der Essensrucksack ist ja im Lauf der Tage deutlich leichter geworden.
Ich stopfe das schwere Kochgeschirr in meinen Rucksack, Genista schultert die
Vorräte und das Kanu, und schon nach wenigen Metern müssen wir
kapitulieren.
Das Kanu bleibt im Wald zurück, Genista übernimmt ergeben die
schweren, metallenen Gegenstände und alles ist wie immer.
Daumennagelgroße Kröten hüpfen über den Weg, wir
müssen aufpassen, sie nicht zu zertreten. Nach einem knappen Kilometer
erreichen wir das Ufer von McIntosh Creek, ich bleibe zurück, um unseren
Lunch zuzubereiten und Genista holt das Kanu. Die Luft schwirrt von Fliegen, das
sehr warme Wetter der letzten Tage hat ein paar irregeleitete Nachzügler
schlüpfen lassen, und jedes Mal, wenn ich mich auch nur einen Moment nicht
bewege, setzt sich ein besonders aufdringliches, schwarzmetallisch
glänzendes Exemplar auf meinen Arm und zwickt mich. Ist das eine der
berüchtigten Blackflies, die im Mai und Juni jeden, der sich ohne
Insektenschutzkleidung in den Park wagt, attackieren und zerbeissen? An Kochen
ist jedenfalls unter diesen Umständen nicht zu denken, stattdessen laufe
ich auf und ab und wedle mit den Armen. Schließlich erscheint Genista,
verschwitzt und hungrig, aber auch er sieht ein, dass das fliegenverpestete
Bachufer kein geeigneter Picknickplatz ist.
Seltsamerweise lassen uns die Abgesandten der Hölle in Ruhe, kaum dass wir
abgelegt haben. Vielleicht fürchten sie sich vor dem kapitalen Frosch, der
unweit des Ufers lauert und den Genista nun vorsichtig mit seinem Paddel aus dem
Wasser hebt und niederzustarren versucht. Der Frosch starrt zurück, dann
springt er, mitten hinein ins Kanu. Er quakt, genau einmal, es klingt
ratlos und ein wenig kläglich. Dann bringt er sich mit einem beherzten
Sprung über die Bordwand in Sicherheit.
Der Creek ist nicht lang, bald erreichen wir die nächste Portage. Das
schlammige Ufer ist fliegenfrei, ein schmaler Holzsteg führt über den
Morast, und am Waldrand können wir endlich unsere Nudelsuppe essen. So
gestärkt tragen wir das Kanu gemeinsam, Genista den Bug, ich das Heck, das
schneidet fies in die Hände, aber es funktioniert. Das Seeufer ist flach
und voller Steine, und wir müssen barfuß zum Boot waten, um es zu
beladen. Genista entdeckt längliche, schwarze Objekte im Wasser, die
Verpuppungshüllen von Libellen. Es gibt viele davon, und ich bin froh, als
ich im Kanu sitze. Wir passieren ein ängstliches Merganserweibchen, das mit
einer Kette von zehn Jungen im Schlepp dicht am Ufer entlangpaddelt. Kaum
erreichen wir den offenen See, wird der Wind wieder sehr unangenehm, also
steuern wir den nächsten Zeltplatz an, der auf einer prachtvollen Insel
liegt. Die Anlegestelle ist eine sonnige, flach ansteigende Granitböschung.
Wir bringen das Boot an Land und machen unseren Bärenrundgang. Der
Trampelpfad ist gewunden und die Insel stellenweise dicht bewachsen, aber mit
Ausnahme einer größeren Menge undefinierbarer Tierhaare, die etwas
abseits auf einer kleinen Lichtung liegen, machen wir keine beunruhigenden
Entdeckungen.
Frohgemut schlagen wir unser Lager auf und baden anschließend ausgiebig im
klaren, von der Nachmittagssonne angenehm erwärmten Seewasser. Nachdem wir
die graue Schicht aus Staub, Schweiss und Sonnenschutzmitteln abgespült
haben, fühlen wir uns frisch und erholt. Nur die Schmutzablagerungen um die
Fingernägel herum lassen sich nicht abwaschen. Sie haben sich unlösbar
mit der Haut verbunden und werden noch Tage nach unserer Rückkehr in die
Zivilisation sichtbar sein.
Schließlich wird das Licht abendlich - das Signal, dass es Zeit wird, zu
kochen. Mit Rind süß-sauer, Reis und einem verdächtig lange
haltbaren Vanillekuchen machen es wir uns am Westende der Insel auf ein paar
Felsen bequem und sehen zu, wie die Sonne am gegenüberliegenden Ufer
langsam hinter den Weisskiefern versinkt. Dann gehen wir zurück zum
Lagerplatz und machen Feuer. Unsere Vorgänger haben reichliche
Holzvorräte dagelassen, und schon bald flackert es munter, während die
schwarze Nacht hereinbricht. Vom südlich gelegenen Ufer weht gelegentlich
fröhliches Gelächter herüber, auch dort sitzt man ums Feuer. Ich
habe eines der Regencapes auf dem warmen Waldboden ausgebreitet, und dort liegen
wir und schauen uns die glitzernden Sternentümpel zwischen den schwarzen
Kiefernkronen an. Wir haben heissen Kakao getrunken und auch etwas von unserem
kostbaren Obstbrand, und ich fühle mich beinahe geborgen mitten in dieser
fremdartigen Einöde.
Dann geht es los. Wölfe, ist mein erster Gedanke, denn im September, so
heisst es, kann man die im Park ansässigen Rudel manchmal hören. Aber
es ist eine Loon, die da ruft, und der jetzt von einer anderen Stelle des Sees
aus geantwortet wird. Und dann tönen von allen Seiten Loongesänge
über den See - Wolfsgeheul, irres Gelächter und die Lautfolge, die so
klingt wie schauerlich wehmütige Möwenschreie. Es müssen
mindestens fünf Loonpaare sein, die sich nach Sonnenuntergang auf ein
geheimes Kommando hin um die Insel herum versammelt haben, um gemeinsam zu
singen - so erscheint es uns jedenfalls, auch wenn es wahrscheinlich nur um
Gebietsansprüche geht oder dergleichen. In der Stille und der samtigen
Dunkelheit entfalten sich die Töne wie in einem Konzertsaal. Ich bin
bezaubert und habe gleichzeitig das Gefühl, dass ich etwas belausche, das
nicht für meine Ohren bestimmt ist, dass ich hier nicht hingehöre.
Schließlich werden die Loongesänge schwächer und das Feuer
züngelt nur noch träge um die verkohlten Äste. Wir ertränken
die Glut in reichlich Seewasser, klauben unsere Habseligkeiten zusammen und
ziehen uns aus dem fürstlichen Kiefernsaal in unser kleines Nylon-Schlafgemach
zurück. Hier und da flackert noch ein vereinzeltes Loonlachen
auf. Dann höre ich nichts mehr.
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