12 Grassy Bay - McIntosh Lake



Als wir nach einer ruhigen Nacht unseren Essensrucksack bergen, kriecht gerade die Morgensonne über die Baumwipfel. Himmel und Wasser leuchten buttergelb, Bäume und Schilf bilden zarte Scherenschnittmuster. Es ist völlig windstill. Wir frühstücken und packen dann eilig zusammen. Grassy Bay steht in dem Ruf, der beste Elchbeobachtungsplatz im gesamten Park zu sein; den Elchen wiederum sagt man nach, dass sie mit Vorliebe frühmorgens an den Ufern Ballett tanzen. Dieses Schauspiel wollen wir uns nicht entgehen lassen.



Wir sind dabei, das Boot zu beladen, als vertraute Geräusche an unsere Ohren dringen: das unmissverständliche "Klonk" von Paddeln an Bordwänden, laute Stimmen, Gelächter. Der Zeltplatz liegt an einer der Hauptverkehrsadern des Parks, hier muss vorbei, wer auf der beliebten, "Main Street" genannten Route nach Westen paddelt oder auf dem Petawawa River nach Norden flüchtet. Unsere Stimmung ist mittlerweile längst wieder ins Einsiedlerische gekippt, düsteren Blickes sehen wir die drei Kanus mit ihren Insassen, kernigen kanadischen Jungmännern, vorbeiziehen. Bis sie ausser Hörweite sind, vergehen kostbare Minuten, die Sonne steht mittlerweile schon recht hoch am Himmel. Wir haben gerade abgelegt, als sich auch schon eine weitere Kanuflotte hinter uns bemerkbar macht. Schneller als sonst paddeln wir gegen den aufkommenden Wind an und hoffen, unsere Verfolger auf Abstand halten zu können.

Wenn wir am Vortag den alten Parkführer zum Feuerturm mitgenommen oder uns seinen Inhalt gemerkt hätten, wir hätten, als wir an den Ruinen lunchten, nicht nur stumpf auf den Trampelpfad gestarrt, der vom Turm aus nach Westen führt und "Aha, Trampelpfad" gedacht, wir hätten vielmehr gewusst, daß dieser Pfad nach 100 Metern an einem Steilhang endet, von dem aus sich uns eine herrliche Aussicht geboten hätte, und wir hätten sehen können, was uns erst jetzt auffällt: Grassy Bay hat eine Fahrrinne, die sich zwischen Schilf, Schlingpflanzen und Inseln mit weißen Baumskeletten hindurchschlängelt. Der benachbarte Zeltplatz ist daher viel weiter entfernt, als die Karte vermuten ließ; bei den gestrigen Windverhältnissen hätten wir nicht erreichen können.

Auch heute kommen wir wegen des Windes nur langsam voran, was blöd ist, denn die Elche haben sich offenbar längst in die schattigen Wälder zurückgezogen. Nur die Fraßlinie an den Thujabäumen zeugt von ihrer Anwesenheit. So vergehen zwei ereignislose Stunden zähen Gepaddels, bis endlich die Ufer zu beiden Seiten näher rücken, ein Zeichen, dass die erste Portage des Tages nicht mehr weit ist. Die Fahrrinne führt durch dichte Teppiche von Pickerelweed, die blauvioletten, zigarrenförmigen Blütenstände sind kurz vorm Verblühen. Plötzlich bewegt sich etwas zwischen den Blüten, es schillert grün und fliegt so schnell, dass es fast nicht zu erkennen ist, aber einen Moment lang steht er in der Luft, der Kolibri. Er tankt hier noch einmal, bevor die letzten Nektarquellen versiegen und er sich auf seinen langen Flug nach Südamerika macht, wo er den Winter verbringen wird. Erst im Mai wird man ihn wieder im Park bewundern können.

Während das winzige Vögelchen vielleicht gerade darüber nachgrübelt, ob und wie es den 800-Kilometer-Nonstopflug über den Golf von Mexiko diesmal schaffen wird, stehen wir vor dem vergleichsweise kleinen Problem, unser Kanu über den soundsovielten Biberdamm hieven zu müssen. Zwei Kanus voll mit alten Wildnishasen überholen uns unterdessen und verschwinden mit demütigender Geschwindigkeit hinter dem Damm. Kurz darauf folgen wir und legen wenig später an der Portage an. Während wir unser Gepäck ausladen, müssen wir mit anhören, wie ein Parkführer vor einem Paar mit der Ausbeute des Morgens prahlt: Er habe mehrere Otter gesichtet, die einen Biber neckten, sowie einen Bären, der eine Lichtung überquerte, einen stattlichen Burschen, sein Fell habe golden geleuchtet in der Sonne.

Unterdessen packen wir um, wir wollen die Portage diesmal in einem Durchgang schaffen, der Essensrucksack ist ja im Lauf der Tage deutlich leichter geworden. Ich stopfe das schwere Kochgeschirr in meinen Rucksack, Genista schultert die Vorräte und das Kanu, und schon nach wenigen Metern müssen wir kapitulieren.



Das Kanu bleibt im Wald zurück, Genista übernimmt ergeben die schweren, metallenen Gegenstände und alles ist wie immer. Daumennagelgroße Kröten hüpfen über den Weg, wir müssen aufpassen, sie nicht zu zertreten. Nach einem knappen Kilometer erreichen wir das Ufer von McIntosh Creek, ich bleibe zurück, um unseren Lunch zuzubereiten und Genista holt das Kanu. Die Luft schwirrt von Fliegen, das sehr warme Wetter der letzten Tage hat ein paar irregeleitete Nachzügler schlüpfen lassen, und jedes Mal, wenn ich mich auch nur einen Moment nicht bewege, setzt sich ein besonders aufdringliches, schwarzmetallisch glänzendes Exemplar auf meinen Arm und zwickt mich. Ist das eine der berüchtigten Blackflies, die im Mai und Juni jeden, der sich ohne Insektenschutzkleidung in den Park wagt, attackieren und zerbeissen? An Kochen ist jedenfalls unter diesen Umständen nicht zu denken, stattdessen laufe ich auf und ab und wedle mit den Armen. Schließlich erscheint Genista, verschwitzt und hungrig, aber auch er sieht ein, dass das fliegenverpestete Bachufer kein geeigneter Picknickplatz ist.

Seltsamerweise lassen uns die Abgesandten der Hölle in Ruhe, kaum dass wir abgelegt haben. Vielleicht fürchten sie sich vor dem kapitalen Frosch, der unweit des Ufers lauert und den Genista nun vorsichtig mit seinem Paddel aus dem Wasser hebt und niederzustarren versucht. Der Frosch starrt zurück, dann springt er, mitten hinein ins Kanu. Er quakt, genau einmal, es klingt ratlos und ein wenig kläglich. Dann bringt er sich mit einem beherzten Sprung über die Bordwand in Sicherheit.



Der Creek ist nicht lang, bald erreichen wir die nächste Portage. Das schlammige Ufer ist fliegenfrei, ein schmaler Holzsteg führt über den Morast, und am Waldrand können wir endlich unsere Nudelsuppe essen. So gestärkt tragen wir das Kanu gemeinsam, Genista den Bug, ich das Heck, das schneidet fies in die Hände, aber es funktioniert. Das Seeufer ist flach und voller Steine, und wir müssen barfuß zum Boot waten, um es zu beladen. Genista entdeckt längliche, schwarze Objekte im Wasser, die Verpuppungshüllen von Libellen. Es gibt viele davon, und ich bin froh, als ich im Kanu sitze. Wir passieren ein ängstliches Merganserweibchen, das mit einer Kette von zehn Jungen im Schlepp dicht am Ufer entlangpaddelt. Kaum erreichen wir den offenen See, wird der Wind wieder sehr unangenehm, also steuern wir den nächsten Zeltplatz an, der auf einer prachtvollen Insel liegt. Die Anlegestelle ist eine sonnige, flach ansteigende Granitböschung. Wir bringen das Boot an Land und machen unseren Bärenrundgang. Der Trampelpfad ist gewunden und die Insel stellenweise dicht bewachsen, aber mit Ausnahme einer größeren Menge undefinierbarer Tierhaare, die etwas abseits auf einer kleinen Lichtung liegen, machen wir keine beunruhigenden Entdeckungen.

Frohgemut schlagen wir unser Lager auf und baden anschließend ausgiebig im klaren, von der Nachmittagssonne angenehm erwärmten Seewasser. Nachdem wir die graue Schicht aus Staub, Schweiss und Sonnenschutzmitteln abgespült haben, fühlen wir uns frisch und erholt. Nur die Schmutzablagerungen um die Fingernägel herum lassen sich nicht abwaschen. Sie haben sich unlösbar mit der Haut verbunden und werden noch Tage nach unserer Rückkehr in die Zivilisation sichtbar sein.

Schließlich wird das Licht abendlich - das Signal, dass es Zeit wird, zu kochen. Mit Rind süß-sauer, Reis und einem verdächtig lange haltbaren Vanillekuchen machen es wir uns am Westende der Insel auf ein paar Felsen bequem und sehen zu, wie die Sonne am gegenüberliegenden Ufer langsam hinter den Weisskiefern versinkt. Dann gehen wir zurück zum Lagerplatz und machen Feuer. Unsere Vorgänger haben reichliche Holzvorräte dagelassen, und schon bald flackert es munter, während die schwarze Nacht hereinbricht. Vom südlich gelegenen Ufer weht gelegentlich fröhliches Gelächter herüber, auch dort sitzt man ums Feuer. Ich habe eines der Regencapes auf dem warmen Waldboden ausgebreitet, und dort liegen wir und schauen uns die glitzernden Sternentümpel zwischen den schwarzen Kiefernkronen an. Wir haben heissen Kakao getrunken und auch etwas von unserem kostbaren Obstbrand, und ich fühle mich beinahe geborgen mitten in dieser fremdartigen Einöde.

Dann geht es los. Wölfe, ist mein erster Gedanke, denn im September, so heisst es, kann man die im Park ansässigen Rudel manchmal hören. Aber es ist eine Loon, die da ruft, und der jetzt von einer anderen Stelle des Sees aus geantwortet wird. Und dann tönen von allen Seiten Loongesänge über den See - Wolfsgeheul, irres Gelächter und die Lautfolge, die so klingt wie schauerlich wehmütige Möwenschreie. Es müssen mindestens fünf Loonpaare sein, die sich nach Sonnenuntergang auf ein geheimes Kommando hin um die Insel herum versammelt haben, um gemeinsam zu singen - so erscheint es uns jedenfalls, auch wenn es wahrscheinlich nur um Gebietsansprüche geht oder dergleichen. In der Stille und der samtigen Dunkelheit entfalten sich die Töne wie in einem Konzertsaal. Ich bin bezaubert und habe gleichzeitig das Gefühl, dass ich etwas belausche, das nicht für meine Ohren bestimmt ist, dass ich hier nicht hingehöre.

Schließlich werden die Loongesänge schwächer und das Feuer züngelt nur noch träge um die verkohlten Äste. Wir ertränken die Glut in reichlich Seewasser, klauben unsere Habseligkeiten zusammen und ziehen uns aus dem fürstlichen Kiefernsaal in unser kleines Nylon-Schlafgemach zurück. Hier und da flackert noch ein vereinzeltes Loonlachen auf. Dann höre ich nichts mehr.

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