Als wir Route und Rhythmus der Tour planten haben, zuhause, stellten
wir schnell fest, daß keine vernünftige Kanureise durch den
Algonquin-Park denkbar ist, die nicht wenigstens eine sehr lange Portage
enthielte. Also planten wir eine sehr lange Portage, die paar Zentimeter auf der
Landkarte sahen harmlos aus, durch zartes Grün verlief das. Heute holt uns diese
Planung ein, knapp zweieinhalb Kilometer weit müssen wir unsere
Ausrüstung schleppen und haben mächtig Respekt davor.
Aber vor das Schleppen schwerer Lasten haben die Götter das Kratzen
verbrannter Kartoffelstreifen aus Campingpfannen gestellt, also schöpfe ich
Spülwasser aus dem See, in den, einen Campingplatz weiter, andere Paddler
grade von einem Felsen springen. Zum Glück ist der See groß. Und
während ich so schöpfe und nicht viel denke außer: wär doch
die Portage schon ein Stück Vergangenheit, von dem man lachend
erzählt, sehe ich im Wasser Pantoffeltiere, ein ganzes Geschwader.
Natürlich sind es keine wirklichen Pantoffeltierchen, die könnte
man selbst nach einer Woche im Busch (so nennt man den Wald, wenn man schon mal
in ihm drin war) mit bloßem Auge nicht erkennen. Nicht einmal erfahrene
Buschwanderer können das. Sie sehen aber aus wie Pantoffeln -- was man ja
von Pantoffeltierchen nicht grade behaupten kann. Diese Tiere hier haben sich,
aus Kraft und Spucke und kleinen Steinchen, ein pantoffelförmiges Haus
gebaut, in dem sie nun leben und das sie über den Seeboden schleppen. Weil
das Pantoffelhaus von oben aussieht wie Seeboden, sieht man auch diese
Pantoffeltierchen fast gar nicht, außer wenn sie sich bewegen, dann
hüpft der Pantoffel einen Millimeter. Das ist ein Zehntel seiner
Länge. Wäre die Insektenlarve im Pantoffel ein Mensch und der
Pantoffel ein Kleinwagen, dann müsste der Mensch den Kleinwagen in
Sätzen von einem halben Meter verschieben, mit Körperkraft statt mit
Benzin. So stark ist die Pantoffellarve.
Der Himmel ist klar und blau bemalt, mit einer giftigen Sonne drin, die
wütend auf uns einsticht, während wir von der Insel weg über den
See paddeln, Richtung McIntosh Creek, der uns zu Ink Lake und der Portage des
Todes führen wird. Der Weg zur Portage des Todes aber führt durch den
Sumpf ohne Schatten, ein malerisches Stück kanadischer Landschaft, der
Creek fließt bezaubernd hindurch, und schlängelt sich mal nach hier,
und mal nach da, während uns die Hirnsuppe kocht, trotz der Buschhüte.
Die größten Tiere, die wir sehen, sind ein paar Cranberries, verloren
auf abgeweidetem Gestrüpp - alles mit Beinen hat sich in den Wald verzogen,
guckt raus auf den Sumpf und schüttelt den Kopf über das Tier mit den
zwei Köpfen, das bei der Hitze durch die Gegend schwimmt.
Als wir Ink Lake erreichen, der so heißt, weil er aussieht wie ein
Faß Tinte, kommt uns ein einsamer Paddler entgegen, mit nacktem
Oberkörper sitzt er in seinem Kajak, die Glatze glänzt im Licht und
ergibt einen lustigen Kontrast mit dem Tümpel. Kurz überlege ich, ob
ein Sonnenstich hier draußen nur lästig, oder möglicherweise
tödlich ist, weil man sowas immer überlegen muß, wenn man aus
der Wildnis berichtet, dann ist er leider um die Creekecke verschwunden, und
aus den Augen ist aus dem Sinn, hier im Niemandsland ebenso wie in der
Großstadt. Solche Vergleiche von Wildnis und Stadt werden, glaube ich, vom Leser
auch erwartet.
An einem kleinen Strand legen wir an, ein Vater und seine beiden erwachsenen
Söhne schleppen grade die letzten Stücke ihrer Ausrüstung die Treppe
herunter, die 20 Meter hügelan und in den Wald führt. Wir unterhalten uns ein
wenig, die angerosteten Sozialgeräte ächzen, versehen aber halbwegs ihren
Dienst. Zwei Stunden haben sie gebraucht für die Portage, wirken erschöpft,
aber nicht erschöpft genug, sich die Komplettdurchquerung von McIntosh Lake
und eine weitere Portage am Nordende auf dem Programm ersparen zu wollen. Das wird uns
vier Stunden später im Rückblick völlig irre vorkommen, im Moment wirkt der
Arbeitseifer der Kleinfamilie nur ein bißchen seltsam.
Wir entladen das Kanu und machen uns mit den Rucksäcken auf den Weg. Der Wald
ist freundlich, sonnig und licht, der Weg bestens gepflegt, und obwohl wir
gelegentlich Pausen machen müssen, kommen wir einigermassen voran. Spaß macht
es trotzdem nicht recht. Menschen gehen freiwillig auf Wandertouren, bei denen
sie jeden Tag stundenlang 40 Kilo durchs Unterholz schleppen - von den vielen
Wundern der menschlichen Seele sicherlich nicht das kleinste.
Alle paar Meter stehen entlang des Weges fußballtorartige Holzrahmen,
zunächst erinnern sie an Trimm-Dich-Pfad-Klimmzug-Stationen, aber dann wird
uns klar, daß man hier das Kanu absetzen soll. Enorm viele von diesen
Stationen gibt es, stramm marschieren wir unter unseren Gewichten vorbei - wie
schwach muß man sein, daß man so oft Pause machen muß?
Unbegreiflich.
Nach einer Fühldistanz von 2 Kilometern öffnet sich der Wald auf eine
besonnte, recht große Lichtung, durch die, einen Meter in den weichen
Grund gegraben, ein schmales Rinnsal fließt. Nichts hier sieht
ungewöhnlich aus, und wären wir nicht vorgewarnt, wir
übersähen sicherlich die Stämme, die sich in der Erde, nur
stellenweise sichtbar, schräg durch die Lichtung ziehen. An der
Böschung sieht man es deutlicher: das Holz sind die Reste eines
Biberdammes, diese Lichtung war vor 50 Jahren noch ein Stausee, vor 20 ein
morastiger Sumpf, um den der Portagepfad einen Bogen machte. Heute führt er
mitten hindurch. Der See, als es ihn noch gab, war etliche hundert Meter lang
und einige Dutzend breit, und auch die Lichtung jetzt ist noch beeindruckend
groß. Biber fangen an, Dämme zu bauen, wenn man sie in eine Badewanne
setzt und Fließwassergeräusche von Band einspielt, sind also mit
anderen Worten dumm wie Holz. Aber einen See dieser Größe aufstauen -
ich könnt es nicht.
Auf der anderen Seite begegnet uns ein Waldhuhn, es läuft eine Weile vor
uns her auf dem Weg und verschwindet dann nach rechts ins Unterholz, und ist in
drei Meter Entfernung vom Weg kaum noch zu erkennen, trotz der roten Haube.
Wieviele Tiere, wieviele Waldmetropolen haben wir wohl übersehen, links und
rechts? Kurz nach dem Waldhuhn macht der Weg eine scharfe Biegung, abwärts,
es kann nicht mehr weit sein bis zum anderen Ende. Noch fünfmal denken wir
das hoffnungsvoll, ehe wir, eine Stunde nach dem Aufbruch, tatsächlich
Wasser durch die Bäume schimmern sehen. Die Erschütterung der Erde durch den
Aufschlag der Rucksäcke auf dem Waldboden stört das Wild in etlichen
Kilometern Umkreis in seinen Wildaktivitäten. Das möchte man
jedenfalls denken. Für den Rückweg, unbelastet, brauchen wir zwanzig
Minuten.
Dann das Kanu.
Zuerst versuchen wir, es zu zweit zu tragen, Frau H am einen Ende, ich am
anderen. Aber schon nach ein paar Metern wird deutlich, daß das keinen
Sinn hat, und ich schultere erneut das Kanu am Joch. Für einen Dollar pro
Tag hätte man ein Schulterpolster mieten können, das das Gewicht des
Kanus auf die Schultern verteilt, aber das hat uns niemand gesagt. Also mieteten
wir nicht, und das Kanu drückt auf zwei münzgroße Stellen auf
meinen Schultern. Alle paar Schritte verlagere ich das Gewicht ein wenig,
trotzdem komme ich nie weiter als ein paar Dutzend Meter, ehe der Schmerz zu
stark wird. Über jede einzelne der Pausenstationen freue ich mich, als
wärs Weihnachten. Denn das Kanu kann man nicht einfach absetzen, wenn es zu
schwer wird, man muss es zu einem dieser Fußballtore schaffen, oder einer
Stammgabelung in der richtigen Höhe, und die sind seltener als die
Pausentore. Schimpfend und fluchend stolpere ich durch den Wald, ich sehe unter
dem Kanuhut nur die nächsten paar Meter und versuche, nicht an die Zahl
2300 zu denken. "2300!", denke ich trotzdem und mache wieder einen
Schritt. Es könnte schlimmer sein. Wenigstens wird mich am Ende keiner an
irgendwas drannageln wollen. Im Gegenteil: am Ende der Portage steht ein Thron,
kunstvoll aus einem Baumstumpf gearbeitet, auf dem als symbolischen Lorbeeren
aus Holz der erfolgreiche Kanuschlepper sich offenbar, unironisch, ausruhen
soll. Und es auch gerne, unironisch, tut.
Wir paddeln nicht mehr weit, den erstbesten Campingplatz steuern wir an. Nett,
aber komplett verwohnt ist er, Campingplatz der Wege zur Klogrube, die sich
verzweigen, vielleicht ein Dutzend Trampelpfade führen zum randvollen Loch.
Alles brennbare ist längst in Rauch aufgegangen, wir werfen
Rindenstücke und Späne ins Feuer, es brennt hell und erlischt schnell.
Das Leben eines Rockstars - ein Lagerfeuer auf einem übernutzten
Campingplatz.
In der einsetzenden Dunkelheit setzt plötzlich Bewegung ein, es
raschelt, schattenhaft hüpft was. Ich suche die letzten Holzstücke
zusammen, bücke mich, etwas Braunes blitzt im Gras, und kurz bevor ich im
Halbdunkel zugreife, schalten die Synapsen: da hockt eine Riesenkröte, 15
Zentimeter lang, und glotzt. Brennbar sieht sie nicht aus. Ich pflücke das
erstaunlich träge Tier, schwer sitzt sie in meiner Hand, die Kröte, um
dann aus heiterem Himmel einen Sprung zu tun und, pardauz!, zu Boden zu fallen.
Ein paar weitere Sprünge, und sie ist im Unterholz verschwunden,
hinterlässt nur einen feuchten Fleck im Sand, ob Blut oder Angstschiss, es
ist nicht zu erkennen. Bin ich ein Krötenkiller?
Nach einer Viertelstunde verebbt die gespenstische Krötenwanderung, alle
Hüpftiere sind jetzt zuhause im Wald, die Sterne funkeln und wir gehen zu
Bett. Die Rückwanderung der Kröten am Morgen werden wir verschlafen.
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