13 McIntosh Lake - Tom Thomson Lake

 

Als wir Route und Rhythmus der Tour planten haben, zuhause, stellten wir schnell fest, daß keine vernünftige Kanureise durch den Algonquin-Park denkbar ist, die nicht wenigstens eine sehr lange Portage enthielte. Also planten wir eine sehr lange Portage, die paar Zentimeter auf der Landkarte sahen harmlos aus, durch zartes Grün verlief das. Heute holt uns diese Planung ein, knapp zweieinhalb Kilometer weit müssen wir unsere Ausrüstung schleppen und haben mächtig Respekt davor.

Aber vor das Schleppen schwerer Lasten haben die Götter das Kratzen verbrannter Kartoffelstreifen aus Campingpfannen gestellt, also schöpfe ich Spülwasser aus dem See, in den, einen Campingplatz weiter, andere Paddler grade von einem Felsen springen. Zum Glück ist der See groß. Und während ich so schöpfe und nicht viel denke außer: wär doch die Portage schon ein Stück Vergangenheit, von dem man lachend erzählt, sehe ich im Wasser Pantoffeltiere, ein ganzes Geschwader.

Natürlich sind es keine wirklichen Pantoffeltierchen, die könnte man selbst nach einer Woche im Busch (so nennt man den Wald, wenn man schon mal in ihm drin war) mit bloßem Auge nicht erkennen. Nicht einmal erfahrene Buschwanderer können das. Sie sehen aber aus wie Pantoffeln -- was man ja von Pantoffeltierchen nicht grade behaupten kann. Diese Tiere hier haben sich, aus Kraft und Spucke und kleinen Steinchen, ein pantoffelförmiges Haus gebaut, in dem sie nun leben und das sie über den Seeboden schleppen. Weil das Pantoffelhaus von oben aussieht wie Seeboden, sieht man auch diese Pantoffeltierchen fast gar nicht, außer wenn sie sich bewegen, dann hüpft der Pantoffel einen Millimeter. Das ist ein Zehntel seiner Länge. Wäre die Insektenlarve im Pantoffel ein Mensch und der Pantoffel ein Kleinwagen, dann müsste der Mensch den Kleinwagen in Sätzen von einem halben Meter verschieben, mit Körperkraft statt mit Benzin. So stark ist die Pantoffellarve.

Der Himmel ist klar und blau bemalt, mit einer giftigen Sonne drin, die wütend auf uns einsticht, während wir von der Insel weg über den See paddeln, Richtung McIntosh Creek, der uns zu Ink Lake und der Portage des Todes führen wird. Der Weg zur Portage des Todes aber führt durch den Sumpf ohne Schatten, ein malerisches Stück kanadischer Landschaft, der Creek fließt bezaubernd hindurch, und schlängelt sich mal nach hier, und mal nach da, während uns die Hirnsuppe kocht, trotz der Buschhüte. Die größten Tiere, die wir sehen, sind ein paar Cranberries, verloren auf abgeweidetem Gestrüpp - alles mit Beinen hat sich in den Wald verzogen, guckt raus auf den Sumpf und schüttelt den Kopf über das Tier mit den zwei Köpfen, das bei der Hitze durch die Gegend schwimmt.


Als wir Ink Lake erreichen, der so heißt, weil er aussieht wie ein Faß Tinte, kommt uns ein einsamer Paddler entgegen, mit nacktem Oberkörper sitzt er in seinem Kajak, die Glatze glänzt im Licht und ergibt einen lustigen Kontrast mit dem Tümpel. Kurz überlege ich, ob ein Sonnenstich hier draußen nur lästig, oder möglicherweise tödlich ist, weil man sowas immer überlegen muß, wenn man aus der Wildnis berichtet, dann ist er leider um die Creekecke verschwunden, und aus den Augen ist aus dem Sinn, hier im Niemandsland ebenso wie in der Großstadt. Solche Vergleiche von Wildnis und Stadt werden, glaube ich, vom Leser auch erwartet.

An einem kleinen Strand legen wir an, ein Vater und seine beiden erwachsenen Söhne schleppen grade die letzten Stücke ihrer Ausrüstung die Treppe herunter, die 20 Meter hügelan und in den Wald führt. Wir unterhalten uns ein wenig, die angerosteten Sozialgeräte ächzen, versehen aber halbwegs ihren Dienst. Zwei Stunden haben sie gebraucht für die Portage, wirken erschöpft, aber nicht erschöpft genug, sich die Komplettdurchquerung von McIntosh Lake und eine weitere Portage am Nordende auf dem Programm ersparen zu wollen. Das wird uns vier Stunden später im Rückblick völlig irre vorkommen, im Moment wirkt der Arbeitseifer der Kleinfamilie nur ein bißchen seltsam.


Wir entladen das Kanu und machen uns mit den Rucksäcken auf den Weg. Der Wald ist freundlich, sonnig und licht, der Weg bestens gepflegt, und obwohl wir gelegentlich Pausen machen müssen, kommen wir einigermassen voran. Spaß macht es trotzdem nicht recht. Menschen gehen freiwillig auf Wandertouren, bei denen sie jeden Tag stundenlang 40 Kilo durchs Unterholz schleppen - von den vielen Wundern der menschlichen Seele sicherlich nicht das kleinste.

Alle paar Meter stehen entlang des Weges fußballtorartige Holzrahmen, zunächst erinnern sie an Trimm-Dich-Pfad-Klimmzug-Stationen, aber dann wird uns klar, daß man hier das Kanu absetzen soll. Enorm viele von diesen Stationen gibt es, stramm marschieren wir unter unseren Gewichten vorbei - wie schwach muß man sein, daß man so oft Pause machen muß? Unbegreiflich.

Nach einer Fühldistanz von 2 Kilometern öffnet sich der Wald auf eine besonnte, recht große Lichtung, durch die, einen Meter in den weichen Grund gegraben, ein schmales Rinnsal fließt. Nichts hier sieht ungewöhnlich aus, und wären wir nicht vorgewarnt, wir übersähen sicherlich die Stämme, die sich in der Erde, nur stellenweise sichtbar, schräg durch die Lichtung ziehen. An der Böschung sieht man es deutlicher: das Holz sind die Reste eines Biberdammes, diese Lichtung war vor 50 Jahren noch ein Stausee, vor 20 ein morastiger Sumpf, um den der Portagepfad einen Bogen machte. Heute führt er mitten hindurch. Der See, als es ihn noch gab, war etliche hundert Meter lang und einige Dutzend breit, und auch die Lichtung jetzt ist noch beeindruckend groß. Biber fangen an, Dämme zu bauen, wenn man sie in eine Badewanne setzt und Fließwassergeräusche von Band einspielt, sind also mit anderen Worten dumm wie Holz. Aber einen See dieser Größe aufstauen - ich könnt es nicht.


Auf der anderen Seite begegnet uns ein Waldhuhn, es läuft eine Weile vor uns her auf dem Weg und verschwindet dann nach rechts ins Unterholz, und ist in drei Meter Entfernung vom Weg kaum noch zu erkennen, trotz der roten Haube. Wieviele Tiere, wieviele Waldmetropolen haben wir wohl übersehen, links und rechts? Kurz nach dem Waldhuhn macht der Weg eine scharfe Biegung, abwärts, es kann nicht mehr weit sein bis zum anderen Ende. Noch fünfmal denken wir das hoffnungsvoll, ehe wir, eine Stunde nach dem Aufbruch, tatsächlich Wasser durch die Bäume schimmern sehen. Die Erschütterung der Erde durch den Aufschlag der Rucksäcke auf dem Waldboden stört das Wild in etlichen Kilometern Umkreis in seinen Wildaktivitäten. Das möchte man jedenfalls denken. Für den Rückweg, unbelastet, brauchen wir zwanzig Minuten.


Dann das Kanu.

Zuerst versuchen wir, es zu zweit zu tragen, Frau H am einen Ende, ich am anderen. Aber schon nach ein paar Metern wird deutlich, daß das keinen Sinn hat, und ich schultere erneut das Kanu am Joch. Für einen Dollar pro Tag hätte man ein Schulterpolster mieten können, das das Gewicht des Kanus auf die Schultern verteilt, aber das hat uns niemand gesagt. Also mieteten wir nicht, und das Kanu drückt auf zwei münzgroße Stellen auf meinen Schultern. Alle paar Schritte verlagere ich das Gewicht ein wenig, trotzdem komme ich nie weiter als ein paar Dutzend Meter, ehe der Schmerz zu stark wird. Über jede einzelne der Pausenstationen freue ich mich, als wärs Weihnachten. Denn das Kanu kann man nicht einfach absetzen, wenn es zu schwer wird, man muss es zu einem dieser Fußballtore schaffen, oder einer Stammgabelung in der richtigen Höhe, und die sind seltener als die Pausentore. Schimpfend und fluchend stolpere ich durch den Wald, ich sehe unter dem Kanuhut nur die nächsten paar Meter und versuche, nicht an die Zahl 2300 zu denken. "2300!", denke ich trotzdem und mache wieder einen Schritt. Es könnte schlimmer sein. Wenigstens wird mich am Ende keiner an irgendwas drannageln wollen. Im Gegenteil: am Ende der Portage steht ein Thron, kunstvoll aus einem Baumstumpf gearbeitet, auf dem als symbolischen Lorbeeren aus Holz der erfolgreiche Kanuschlepper sich offenbar, unironisch, ausruhen soll. Und es auch gerne, unironisch, tut.



Wir paddeln nicht mehr weit, den erstbesten Campingplatz steuern wir an. Nett, aber komplett verwohnt ist er, Campingplatz der Wege zur Klogrube, die sich verzweigen, vielleicht ein Dutzend Trampelpfade führen zum randvollen Loch. Alles brennbare ist längst in Rauch aufgegangen, wir werfen Rindenstücke und Späne ins Feuer, es brennt hell und erlischt schnell. Das Leben eines Rockstars - ein Lagerfeuer auf einem übernutzten Campingplatz.

In der einsetzenden Dunkelheit setzt plötzlich Bewegung ein, es raschelt, schattenhaft hüpft was. Ich suche die letzten Holzstücke zusammen, bücke mich, etwas Braunes blitzt im Gras, und kurz bevor ich im Halbdunkel zugreife, schalten die Synapsen: da hockt eine Riesenkröte, 15 Zentimeter lang, und glotzt. Brennbar sieht sie nicht aus. Ich pflücke das erstaunlich träge Tier, schwer sitzt sie in meiner Hand, die Kröte, um dann aus heiterem Himmel einen Sprung zu tun und, pardauz!, zu Boden zu fallen. Ein paar weitere Sprünge, und sie ist im Unterholz verschwunden, hinterlässt nur einen feuchten Fleck im Sand, ob Blut oder Angstschiss, es ist nicht zu erkennen. Bin ich ein Krötenkiller?

Nach einer Viertelstunde verebbt die gespenstische Krötenwanderung, alle Hüpftiere sind jetzt zuhause im Wald, die Sterne funkeln und wir gehen zu Bett. Die Rückwanderung der Kröten am Morgen werden wir verschlafen.

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