Ich mag den Zeltplatz nicht. So viele Füße haben ihn im Laufe des
Sommers zertrampelt, so viele rücksichtslose Hände sich auf der Suche
nach Feuerholz an seinen Bäumen und Sträuchern vergriffen, dass er die
Atmosphäre eines verwahrlosten Stadtparks ausstrahlt. (Noch weniger
würde ich diesen Platz schätzen, wenn ich wüsste, was ich erst
Wochen später aus einem kanadischen Outdoormagazin erfahre. Dort ist Tom
Thomson Lake in einer "Best of Algonquin"- Liste aufgeführt - als
der Ort, den man am besten meidet, wenn man sich vor Bären fürchtet.)
Ich bin also nicht traurig, als wir gegen Mittag unser Kanu besteigen und zu
unserer vorletzten Etappe aufbrechen. Wir sind noch nicht weit gepaddelt, als
uns am Südostende des Sees ein prachtvoller Biberdamm die Durchfahrt zum
benachbarten Littledoe Lake versperrt. Wir bezwingen ihn routiniert. Hinter dem
Damm ist das Wasser ruhig, man kann bis auf den Grund sehen, und richtig, da
tummeln sich ein paar kleine Fische. Was das bedeutet, weiss ich mittlerweile.
Ich döse also schicksalsergeben in der schwülen Hitze, während im
Heck des Kanus das Unvermeidlliche passiert. Eine kümmerliche Kreatur wird
gefangen und dem Element zurückgegeben, während ich unter
halbgeschlossenen Lidern mit wachsender Sorge die schwarzen Wolken beobachte,
die sich von Westen vor die Sonne schieben. Vereinzelt ist dumpfes Grollen zu
hören. Meine Warnrufe werden zunächst missmutig abgetan,
schließlich kann ich den heillosen Petrijünger aber doch zur Aufgabe
bewegen - keine Sekunde zu früh. Als wir auf den See hinauspaddeln,
peitschen uns die ersten Gewitterböen von Steuerbord entgegen.
Glücklicherweise ist der See an dieser Stelle schmal und der nächste
Campingplatz nur wenige Kanulängen von uns entfernt. Es beginnt zu
tröpfeln, als wir am steilen Ufer landen und unsere Ausrüstung unter
dem umgedrehten Kanu in Sicherheit bringen. Wir haben gerade noch Zeit, eine
Plane zwischen ein paar Bäumen aufzuspannen, bevor das Gewitter richtig
losbricht. Dann kauern wir unter unserem notdürftigen Wetterschutz, umweht
von Sprühnebel, während ringsherum der Regen prasselt und die
Abstände zwischen Blitz und Donner immer kürzer werden. Ich denke
voller Unbehagen an die hohen Weisskiefern in unserer Nähe. Durch die
Bäume können wir den vom Regen mattierten, bleifarbenen See sehen und
beobachten, wie die Böen über seine Oberfläche streichen.
Zum Glück zieht das Unwetter schnell vorbei, und wir setzen unseren Weg fort.
Littledoe Lake mündet im Westen in den Little Oxtongue River. Der Wind hat sich
vollkommen gelegt, und der dampfende, stellenweise schon bunt getupfte Wald
spiegelt sich in der unbewegten Oberfläche des Flusses. Lautlos gleiten wir
dahin, während sich die Sonne langsam wieder durch die Wolken stiehlt.
Bald verbreitert sich der Fluss, er durchfließt Tepee Lake. Am Westufer
können wir einen stattlichen Blockhauskomplex ausmachen, Camp Arowhon. Hier
sammelt die kanadische Jugend im Sommer charakterbildende Erfahrungen. Auch
jetzt ist das Camp ist noch nicht völlig verlassen. Eine kanadische Flagge
flattert im wieder auffrischenden Wind, Kommandorufe wehen zu uns herüber.
Dann liegt Tepee Lake hinter uns, wir passieren eine schmale Durchfahrt zu Joe
Lake, und der Kreis unserer Reise schließt sich.
Gerne würde ich wieder auf unserem Platz campieren, aber er ist bereits
belegt. Auch auf den anderen Plätzen ringsum stehen Zelte, lustig
kreischende Menschen springen von Felsen ins Wasser und wir bekommen einen
Eindruck davon, wie es hier während der Hauptsaison zugehen muss. Nur ein
Platz ist noch frei, und es ist auch klar, warum. Wer würde schon
freiwillig auf einem schmalen, düsteren Uferstreifen am Fuß eines
steilen Abhangs sein Lager aufschlagen wollen? Das fragen wir uns, als wir unser
Zelt nach längerer Suche an der Stelle aufbauen, die sich noch am ehesten
dafür eignet, sofern wir nicht mitten auf dem Pfad zelten wollen, aus dem
unser kümmerliches Refugium im Wesentlichen besteht. Der Platz ist dunkel
und feucht, der Regen hat Rinnen in den weichen Untergrund gegraben, und
für meinen Geschmack steht das Zelt immer noch viel zu nahe am Weg, denn wo
ein Weg ist, ist über kurz oder lang auch ein Bär. Direkt neben
unserem Zelt steht eine sterbende Weisskiefer, zehn Meter hoch wird sie sein.
Idioten haben mehrere tiefe Kerben in ihren Stamm gehackt. Sollte sie umknicken,
etwa bei einem Gewittersturm, wird sie direkt auf unser Zelt fallen.
Mittlerweile strahlt aber wieder die Sonne und wir essen das kanadische
Nationalgericht, Makkaroni mit Käsesauce, dazu Trockenfleisch und
Studentenfutter. Dann macht sich Genista ein letzes Mal auf, die kapitale
Seeforelle zu erlegen.
Ich bleibe auf dem ungemütlichen Platz zurück und beobachte, wie die
Wolken im Westen wieder schwärzer werden. Vorsichtshalber bedecke ich unser
Zelt mit der Regenplane, die ich zur Wetterseite hin bis auf den Boden ziehe und
sorgfältig mit Steinen und Schnüren sichere. Als Genista
schließlich unverrichteter Dinge zurückkehrt, hat uns das zweite
Unwetter schon fast erreicht.
Hastig ziehen wir das Boot an Land und raffen etwas Feuerholz zusammen, das
wir unter dem Vorzelt aufstapeln. Kaum sind wir im Trockenen, als ringsum die
Hölle losbricht. Ich versuche, zu lesen und nicht an den angeschlagenen
Baum zu denken. Das ist gar nicht so einfach, wenn die Windböen an der
Seite, an der man liegt, das Zelt eindrücken und draussen Sturzbäche
herniedergehen. Als sich das Gewitter nach einer Stunde endlich ausgetobt hat,
ist es merklich kühler geworden. Der Himmel ist grau verhangen, es beginnt
zu dämmern. Höchste Zeit, das Seil für den Essensrucksack zu
installieren. Wir müssen ein ganzes Stück laufen, bis der Pfad eine
Biegung macht und wir in einem struppigen Waldstück endlich einen
geeigneten Baum entdecken. Nachdem das Seil hängt, macht Genista noch einen
kurzen Erkundungsgang, während ich an der Wegbiegung auf ihn warte. Mir
behagt es hier nicht, und ich möchte zum Zelt. Endlich kommt Genista wieder
und wir machen uns eilig auf den Rückweg.
Unser Abschiedsessen, einen Cajun-Bohneneintopf, löffeln wir mit Blick auf
ein Amphitheater aus Wolken, das von den Strahlen der sinkenden Sonne rosig
angeleuchtet wird. Dann machen wir zum letzten Mal ein Feuer und wärmen uns
mit Kakao und Obstbrand von innen. Auf dem gegenüberliegenden Zeltplatz
werden grüßend Taschenlampen geschwenkt, Gitarrenmusik und Kinderstimmen
tönen zu uns herüber. Schließlich packen wir zusammen, tragen
den Sack in den düsterern Wald und verkriechen uns im Zelt.
In dieser lauten, windigen Nacht, da bin ich sicher, geht ein Bär an
unserem Zelt vorbei. Ich habe keine Angst.
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