Am Morgen öffnet sich die Zelttür auf eine trübe Tasse Wasser.
Der Sturm in der Nacht hat den letzten Rest Sommer weggeblasen, Joe Lake liegt
grau in der Kälte. Lebte ich hier, und trüge ich einen enormen Bart
und eine Jacke aus selbstgegerbtem Leder, ich streckte jetzt vielleicht
prüfend die Nase in den Wind und sagte: der Winter kommt. So, ohne Bart und
Jacke, denke ich es bloß. Schlotternd gießen wir uns Oatmeal und
heiße Schokolade in die Leiber, packen zum letzten Mal das Lager zusammen
und legen ab.
Unser erstes Ziel für den Tag ist eine alte Sägemühle, die ich gestern
während des Sturmes auf der Karte verzeichnet fand. Nur ein paar Schritte
südlich des Zeltes musste sie liegen, das hatte ich mir tapfer aus Pi, Daumen
und ausgestrecktem Arm zurechttrianguliert. Eine halbe Stunde irrten wir auf der
Suche nach einem Sackhängebaum durchs feuchte Gebüsch, bergauf und bergab,
nachdem wir einen gefunden hatten spähte ich noch ein wenig weiter, kehrte aber
schließlich um, ohne Mühle im Erlebnisgepäck, dafür hatte ich einen
Riesenhaufen Bärenlosung gesehen und diese Entdeckung taktvoll verschwiegen.
Zurück am Zelt rechnete ich erneut, wedelte mit dem Kompaß, bestarrte die
Karte und dachte mir 400 Meter als neue Entfernung zur Mühle aus.
Kaum haben wir nun die Ufernähe verlassen, sehen wir die alte Anlegestelle,
genau wo ich sie berechnete. Kurz staune ich über diesen Triumph moderner
Navigationsmethoden, dann legen wir an und machen das Kanu am bröckeligen Beton
fest. Von den Mühlengebäuden ist nichts mehr übrig als ein paar Brocken Stein
und einige Fundamente, in einer überwachsenen Grube liegt ein verrostetes
Turbinenstück. Hier sieht es aus, als seien die Mühlenbetreiber nur schnell
aus dem Raum gegangen, als sei der Raum und das ganze Gebäude dann in
Sekundenschnelle zerfallen, zu Staub zerrieben und vom Wind verstreut worden,
und als seien dann im Zeitraffer Gras und Gebüsch drüber gewachsen. Der Schein
trügt jedoch, es ist Jahrzehnte her, daß hier zuletzt zu Mittag gegessen oder
Holz zersägt wurde.
Ein Stück abseits vom Startpunkt der Portage, die uns von Joe Lake zu Canoe
Lake bringen wird, stand zu den Zeiten, in denen der Park Hochkonjunktur hatte,
das Algonquin Hotel, ein stattlicher Holzbau, in dem Tom Thomson die kanadische
Kunst mit raschen Pinselstrichen neu gestaltete. Wir gehen die paar Schritte zum
Hotel, über den Waldweg ist in der Nacht zuvor ein kleiner Baum gefallen.
Wo das Hotel stand, ist ein rechteckiges Loch im Wald, nur Gräser und
Blumen gibt es, vermutlich liegt zu wenig Erdreich über dem Fundament.
Der Weg zur Portage dann ist blockiert von einem ausgewachsenen Baum. Einen
halben Meter durchmisst der Stamm an der Stelle, an der er gebrochen ist
vielleicht zehn Meter lang sind Stamm und Holztrümmer. Während wir
mühsam das Kanu übers Hindernis wuchten, denken wir zurück an den
angesägten Baum neben unserem Zelt und an die stürmische Nacht und
daran, dass der angesägte Baum neben unserem Zelt, wäre er
gestürzt, vermutlich auf unser Zelt gestürzt wäre, und von dort
praktisch ungebremst weiter auf die schlafenden Uns. Wir hätten es nicht
überlebt. Gut, daß es anders kam.
Auf Canoe-Lake haben wir noch eine letzte Attraktion auf dem Programm. Hier gab
es vor über hundert Jahren eine kleine Siedlung, Mowat, auf unserer Karte
ist sie verzeichnet, aber vom See aus ist nichts zu sehen. Wir steuern das Kanu
in ein flaches Sumpfgebiet, machen es schließlich am Rand eines Feldweges
fest und steigen aus und direkt in die Überreste eines Massakers. Dutzende
Eierschalen liegen auf dem Weg verstreut, ein dreissig Zentimeter tiefes Loch
klafft. Ein Schnappschildkrötengelege wurde Opfer eines Eierdiebes. Auf
ungefähr 10.000 gelegte Eier kommt eine überlebende
Schnappschildkröte - die Zahl habe ich mir soeben ausgedacht, die Botschaft
stimmt. Schnappschildkröten sind lausige Fortpflanzer.
Wir gehen hundert Meter den Weg entlang, zwei-, dreihundert, längst
müssten wir die Geisterstadt passiert haben, aber es ist nichts zu sehen im
lichten Wald. Plötzlich stehen wir vor einem Privathaus mit
Geländewagen und Boot davor, verlassen liegt es da, wie in einem
Horrorfilm. Es klingelt aber kein Telefon, also drehen wir um, und sehen auch
auf dem Rückweg keine Geisterstadt, keine alten Schilder, die im Wind
sachte schaukeln, nur Baum, und Baum, und wieder Baum. Bei den Eierschalen
biegen wir rechts ab, steigen zurück ins Boot und paddeln in den
wiederauffrischenden Sturm.
Wir halten uns nahe am Ufer, solange es möglich ist, paddeln im
Windschatten einer der Inseln, aber zuletzt müssen wir doch hinaus auf den
hohen See, meterhoch schwappen die weißgekrönten Wellen gegen die
Bordwand, mehr als eine schickt eine Vorhut an Bord und wir paddeln was die
müden Arme hergeben. Wenn der Wind noch ein wenig stärker, die Wellen
noch ein wenig höher werden, holen wir uns nasse Füsse, tränken
die Ausrüstung oder kentern gar, in Sichtweite des Zieles, das quälend
langsam näher rückt. Bliese der Wind aus der Gegenrichtung, wir
hätten kaum eine Chance, so aber ackern wir uns Stück um Stück
durch die Brecher in die Bucht. Während wir das Kanu auf den flachen
Kiesstrand ziehen, legen am Kanuverleih gegenüber zwei Tagesausflügler
ab, unbedarft, unsicher. "You'll be fine", ruft der Verleiher ihnen
nach. Glatt gelogen, alte Buschhasen wie wir wissen das und werfen sich
vielsagende Blicke zu.
Seltsam ist es, nach nur zehn Tagen in der Einsamkeit wieder in die Zivilisation
zurückzudriften. Seltsam, einen Burger zu bestellen. Seltsam, in einem
Lieferwagen zu unseren Ausstattern zu fahren ("These waters are pretty dead
for fish", sagt der Fahrer und bewirkt das Kunststück, daß ich
mir gleichzeitig weniger doof und doofer vorkomme als zuvor). Seltsam ist es, im
Taxi zurück in die kanadische Kleinstadt zu fahren. Und die Lichter und
Menschenmengen Torontos sind vollends ganz erstaunlich. Ein paar Minuten lang.
Dann sind wir zurück.
Zurück | Bildarchiv
|