Es hatte ihm die Reise erschwert und erleichtert zugleich, in dem kleinen
Reisenecessaire neben kleinen Leckereien und einer Fotografie auch einen
Brief adressiert an "K., Boeing 747, über den Wolken" vorzufinden.
Hatte er geweint, aus Erschöpfung, des Fiebers, der Entfernung wegen?
Oder weil ihn die fürsorgliche Zuneigung auch hier oben, in diesem
fliegenden Kühlschrank erreichte? Denn etwa eine Stunde vor der
Landung war es bitter kalt geworden, ein Wärmeleck vermutlich.
Kein Gedanke mehr galt dem Aussehen,
die häßliche grüne Decke spendete Wärme. Grund genug
sich zu verpacken.
Und dann, an den Tragflächen vorbei, weit unten, eine braun-grüne
Landschaft.
"That's Canada", sagte eine Stimme neben ihm, und er brauchte einen Moment,
um zu begreifen, daß mit ihm gesprochen wurde.
In der Annahme, gefragt worden zu sein, ob dort unten Kanada zu sehen sei,
holte er weit aus, und antwortete, zu leise, er wisse es nicht, halte die
Landmasse jedoch für Grönland. Der Kapitän habe doch
schließlich erst vor einigen Stunden auf die Südküste
Grönlands hingewiesen. Und warum nicht?
Bestimmt sei das Canada, sagte die Person neben ihm. Sie wisse es nämlich.
Sie sagte es auf Englisch, er antwortete auf Englisch. Woher er komme?
Deutschland. Sie auch.
Man wechselte die Sprache. Mit Mühe vermochte K. den folgenden
Ausführungen der Fensterplatzfrau zu diversen Aspekten des
deutschen akademischen Betriebes, der Physiologie und der Anatomie zu
folgen, und gelegentlich entwischte ein Wort seinen Lippen, das
ihm durchaus passend und dem Gespräch förderlich schien,
tatsächlich aber meist Verwirrung auslöste.
Woher wußte die Person, daß er Physiologie zu studieren im
Begriff war? Er mußte es ihr wohl gesagt haben. Und warum saß
sie überhaupt dort? Und wohin war die Felsenküste Grönlands
so plötzlich verschwunden? Eine Perle kalten Schweißes sammelte
sich auf der Tragfläche und schlich sich durch die Augen in seine Stirn,
brachte mehr Kälte. Mit großer Anstrengung zog er die
Tischdecke um sich. Das Necessaire lag zu seinen Füßen neben dem
Rucksack. Er verglich seinen Inhalt mit der Graugrüne Grönlands,
unter der Tragfläche,
Stück für Stück, fand wenig gemeinsam, viele Unterschiede,
und fast schlief er sanft darüber ein. Fast.
Jetzt, im Landeanflug auf Toronto, konnte er sich nicht mehr erinnern, was
größer gewesen war: Grönland, oder Kanada, oder die
Tragfläche, die darüber vibriert hatte. Und es zerschnitten. In
ein Grönland vor und eines hinter der Tragfläche. Zwei
Grönländer. Oder Kanadier.
Toronto wirkte eigenartig, die Häuser so klein, daß unmöglich
jemand darin leben konnte. Die Straßen wie für Ameisen. Die Laternen
spendeten kein Licht. Freilich war Tag. Der Eindruck blieb.
Eine Gartensiedlung. Ein zufälliges Zusammentreffen von Menschen,
die Entspannung suchen und Landschaft, die sie gewähren kann, bildet
solchen Anblick. Eine Art chemischer Reaktion, die kaum zu verhindern ist.
Die Gartenhäuser ziehen andere Menschen an, die Gärten werden
Äcker, die Äcker Straßen und die Menschen verschwinden und
werden Ameisen. Währenddessen waren aus den Gartenhäusern richtige
Häuser und schließlich der Himmel über Ontario geworden,
als das Flugzeug in eine Kurve ging und den Abstieg vollendete. Nach der
Landung gab es nur wenig Applaus.
Fast widerstrebend verließ K. das Flugzeug, und spürte die
beißende Kälte des kanadischen Winters auf der Haut. 22 Grad
hatte der Kapitän durchgesagt. Er hatte sich geirrt. Eiseskälte
herrschte, und stechender Schmerz stieg in Blasen auf.
"Mein Leib gefriert", dachte K. "Gleich wird es knirschen, dann brechen
und ich falle auseinander. Wie ein Schneemann." Er griff den Rucksack
fester. Zog die Jacke an. Natürlich in umgekehrter Reihenfolge, aber
das war in dieser Kälte schwer zu unterscheiden.
Dann der erste Schritt auf kanadischem Bleck, aus dem Flugzeug in die
Gangway. Scheppern unter den Füßen, mehr und mehr gefror
der Bauch. Überholte ihn jemand? Noch jemand? Schwer zu sehen die
Gegenwart ist, wenn man mittendrin steckt. Die Gangway war zuende. Ein Gang
begann, endlos. Stechen. Mühsam zog er sich voran. Der Gang zuende.
War das ein Klirren, von brechendem Eis? Ein Kristall verdunstete in der
Hitze auf seiner Stirn. Eine Rolltreppe, die er dankbar bestiegt.
Und da war endlich die Paßkontrolle, Schlangen hatten sich
längst vor allen Beamten gebildet. Ein Stich. Ein Toilettenzeichen.
Die beiden gehörten zusammen wie Pech und Glück. Wir lassen
K. den Raum alleine betreten. Nur Geräusche dringen zu uns heraus,
und auch die fast unhörbar.
Da ist er ja wieder. Ist er bleich oder sind das die Laternen? Vielleicht
ist es der Schreck, denn grade fällt ihm ein, daß er das
Necessaire im Flugzeug ließ. Dort lag es, alleine,
zurückgelassen, wo seine Füße geruht hatten. Und lag.
Das Flugzeug hob ab, und trug das kleine Täschchen zurück
nach Europa, den ganzen langen Weg, über die Grönländer
und Kanadier hin, das leere Flugzeug und das kleine Reiseneccessaire.
Kälter biß der Wind. Ein Frösteln startete im linken
kleinen Finger und ergriff ihn, während er zurück zur Rolltreppe
hastete. Sie führte nur herab. Daneben die Stufen waren mannshoch.
Der Gang oben war verlängert worden, ausgebaut, und natürlich
verteilte sich die Wärme nun weiter. Es war also kalt geworden. Die Gangway
hinab schepperte es.
"Oh, we're happy you returned. This is your little bag?".
Oh ja, ist es.
Eine Hitzewelle der Dankbarkeit lief die hundert Meter in weniger als
fünf Sekunden. Stechen.
Gangway. Gang. Rolltreppe (sie fuhr abwärts diesmal).
Paßkontrolle. Es wartete niemand mehr, vielleicht war er viele
Stunden lang durch den Flughafen geirrt, draußen längst Nacht
und die Laternen hell und man vermißte ihn. Sowas war schon
vorgekommen. Ganze Jahre, vertan in einem langen Gang in einem
Bürogebäude, während man doch nur etwas frische Luft
schnappen wollte. Er schnappte.
Eine Schlange, Klappern. Die Visaschlange, dem Schild zufolge. Das Klappern
allerdings besorgten seine Zähne. Klipp-Klapp. Noch zweihundert
andere Visa auszustellen, bevor er an der Reihe war.
Einhundertneunundneunzig jetzt.
Jemand kam. Eine Nummer wurde auf den Brief geschrieben, den die kanadische
Botschaft geschickt hatte, und auf dem stand, daß er mit einem
Einreisbeamten sprechen durfte. Diese Nummer hatte eine Bedeutung.
Plötzlich war er nicht mehr in einer Schlange, sondern in einem
großen Raum. Aber es klapperte immer noch. Eine Nummer wurde gerufen,
aber es war nicht seine. Links unterhalb der Rippen setzte nun ein Schmerz
an und pflügte dann nach rechts unten, machte dort kehrt
und verschwand. Kehrte dann peitschend etwas weiter vorne wieder, zwickte
heftig und klirrte dann nach halblinks. Rotierte und biß zu. Hielt
kurz inne und verzehrte gluckernd eine Semmel. Wurde
stärker. Oder schlug zu. Haltlos im Klappern wanderte der Blick,
und fand was er suchte. Und diesmal werden wir nicht Halt machen an der
Tür, wir müssen mit hinein in den Raum, denn wir haben keine
Nummer auf unserem Brief und keinen Grund, vor der Tür zu warten.
Wir werden hier nicht aufgerufen.
Er rieb und drückte. Atmete ein (ein Stechen, fast zu stark). Streckte
sich. Beugte den Rücken und drückte einwärts. Krampfte.
Es half nicht. Das Stechen blieb. Der Schmerz blieb. Alles blieb.
Die Hose lag um seine Knöchel, als er blind in den Spiegel starrte.
Eine Idee. Hüpfend näherte er sich dem Waschbecken. Drehte
das Wasser an und trank. Und trank mehr. Bis laut ein Gurgeln hallte,
eine Verschiebung spürbar war, und er dankbar zurückhüpfte.
Es wird nun nicht mehr lange dauern, und wir schleichen uns schon vor die
Tür, wo unterdessen die Nummer aufgerufen wurde, die auf K.s Brief
geschrieben steht, in roter Handschrift. Da kommt er auch schon, und er
sieht erleichtert aus.
Ein Blick in den Computer, ein Blick auf den Brief. Ein Stempel, ein
Festtackern. Ein den-Paß-wieder-zumachen. Willkommen in Kanada.
Kaum fünf Minuten hatte das gedauert, aber während K. hier
gewartet hatte, waren draußen vermutlich fliegende Autos und
Menschen ohne Krankheiten gebaut worden. Die ihn aussortieren
würden, "invalid", und niemals würde er in den Weltraum fliegen.
Oder war das ein anderer Film? Ein weiterer Vorgriff? Dieses Kanada
war so kompliziert.
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