Eine merkwürdige Atmosphäre geht von belebten Orten aus,
wenn sie nicht mehr belebt sind. Leere Schulgebäude wirken bedrohlich,
leere Ämter sind erfüllt von unaufhörlichem Rascheln und
Knistern, und leere Flughäfen wirken besonders seltsam. Als wären
alle schon fort, abgeflogen, und nur man selbst zurückgeblieben. Sie
wirken friedlich, aber nicht wie ein stiller Ort in grüner Natur, sondern
wie ein Friedhof. Geschlossene Duty-free-shops, Gepäckbänder,
die still stehen und keine Koffer im Kreis fahren. Türen, die geschlossen
sind.
Nur daß dieser Flughafen nicht leer war. Alles andere als das. Die
Gepäckausgabehalle war ein unüberschaubares Gewimmel von Menschen
und Koffern und noch mehr Menschen. Große Säulen spieen Gepäck
in das Chaos, immer noch mehr Gepäck, und das gierige Monster, dieser
Ameisenstaat aus Reisenden, verschlang alles und bekam doch nie genug.
Überall ratlose, leere Gesichter, hungrige Blicke flackern unstet
auf der Suche
nach einem bestimmten Leckerbissen, einem bestimmten Material. Leder, Plastik,
Koffer, Tasche. Und unter all diesen Hungrigen steht K. und versucht, die
Gepäckausgabe für seinen Flug zu finden. Die natürlich
längst geschlossen ist.
Nirgendwo findet er daher die Flugnummer, nirgendwo steht Frankfurt.
Nirgendwo kreist sein Gepäck um eine der Säulen. Noch immer ist
es kalt.
Der Beamte von der Gepäckaufsicht schickt K. zu zweien der
Säulen. Ob er da schon nachgesehen habe? Unterwegs hört er jemand
anderen nach seinem Gepäck fragen, der auch aus Frankfurt gekommen war.
Er suchte an einer anderen Säule. Ob er dorthin von einem anderen oder
demselben Beamten geschickt worden war, war nicht zu verstehen.
Diesmal kramte der Gepäckaufseher ein Formular hervor, auf dem K.
genau angab, wie sein Koffer und seine Tasche ausgesehen hatten. Farbe.
Form. Sobald gefunden werde ihm das Gepäck nachgeliefert. Sobald er
seine Adresse wisse, solle er anrufen, dann gehe schon alles klar.
Dann werde nämlich alles gut.
K. bezweifelte es nicht. Und verließ schließlich die
Halle ohne Gepäck. Wie ein Hammer kam die Hitze auf ihn nieder. Boing.
Unerbittlich glühte eine grelle Sonne von einem wolkenlosen,
grellblauen Himmel. Eine staubige Straße lag vor ihm, über
der die Hitze flimmerte. Ein staubiges Parkhaus erhob sich kilometerhoch
in das verbrannte Blau. Und vor K. stand Douglas mit besorgtem Gesicht. Das
Jahr im Flughafen hatte tatsächlich knapp eineinhalb Stunden
gedauert, in denen Flughafenangestellte mehrfach bestätigt hatten,
daß noch nicht alle Passagiere aus Frankfurt den Ausgang gefunden
hatten.
Das Fehlen der Gepäckstücke führte dazu, daß weniger
in den Kofferraum einzuladen, und das Einsteigen in das im Parkhaus vor dem
Flughafen abgestellte Automobil insgesamt flotter vonstatten ging. Ein
Vorteil aber, der K. nicht einfallen wollte, war er doch soeben erst aus
der brütenden kanadischen Hitze in die relative Kühle des
Parkhauses gelangt und noch nicht in der Lage, menschlich zu denken.
Das Fahrzeug verließ wie von Geisterhand bewegt das Parkhaus. Ein
kurzer Blick belehrte K., daß tatsächlich Douglas die Armaturen
bediente und das Lenkrad bewegte. Keine Geisterhand in Kanada also vorerst,
aber kaum waren das schützende Betondach und das Betonparkhaus darunter
verschwunden, stach Kanadas sengende Sonne wieder unerbittlich kleine
Löcher in die Windschutzscheibe. Kanadische Geisterlöcher.
Ein schwerer Panzer folgte nun dem Wagen. Die kanadische Armee war auf dem Posten,
und nicht nur auf dem Weg nach Ost-Timor, um für Recht und Ordnung zu
sorgen, sondern auch hier auf ihrem Posten. Niemand reiste ungestraft in
diese Hitzewüste, niemand gelangte hinein
ohne einen Geheimdienstkanadier im wummernden Panzerwagen hinter sich. K.
drehte sich um und erwartete, einem Feldstecher in die winzigen Äuglein zu
blicken, aber hinter dem Wagen wie vor ihm erstreckte sich bis zum Horizont
eine weit ausgebreitete Straße, über der Hitze blaß
glomm. Weit, hinten, fern und wabernd,
eine Herde Kamele und eine Palme mit Gewässer. Genauer gesagt, eine lange
Kette von staubigen Autos im grellen Gegenlicht. Und das Geräusch
natürlich des Panzerwagens.
Das Auto sei nicht ganz in Ordnung, sagte jetzt Douglas vom Fahrersitz her.
Der Auspuff habe ein Leck und mache Lärm,
ein Geräusch sei also nicht zu vermeiden. Finsterer strahlte die Sonne.
Also schön, dann eben kein Panzer. K. schraubte heftig. Durch einen Spalt,
den er ins Fenster hineingeschraubt hatte, strich kühlende Heißluft
ins Innere. Nur noch 40 Grad waren es jetzt. Oder vielleicht 50, höchstens.
Der Wagen raste, noch immer verfolgt vom eigenen Auspuff, die Straße
Nummer 401 hinab nach Westen. Hielt an einer Kreuzung ratlos inne. Schien
sich zu besinnen, verließ schließlich den Highway, um ihn nach einer
eleganten Kurve auf der Gegenseite unerwartet wieder zu befahren. Und raste,
ein Geräusch im Schlepptau, den Highway 401 hinauf nach Osten. Dann
verdampfte die Straße in der Hitze und eine Laterne kippte um. Oder
vielmehr, wurde aufgerichtet. Stand nun hoch und breit am Rand einer Straße.
"Hier wohne ich", sagte Douglas und deutete auf die Laterne. Eigenartiges Land,
dachte K., als er ausstieg. Die Hitze blieb im Auto sitzen, schwerfällig
und dumm, die Bäume spendeten milden Schatten, vereinzelte Vögel
standen geparkt am Straßenrand. Die Temperatur betrug angenehme 22 Grad.
Und zusammen mit dem Gefühl, angekommen zu sein, machte sich die Vorahnung
einer wichtigen Frage in K. breit, die sich jedoch nicht packen lassen wollte.
Nichts fiel ihm ein..
"Sind das echte Ziegel?"
Der Aufzugboden war tatsächlich geziegelt, aber
das war nicht die gesuchte Frage. Denn die gesuchte Frage war sehr wichtig, Ziegel
waren das im Allgemeinen nicht.
Auf dem Balkon hatte er über den weiten High Park hinweg den ersten
Blick auf den See genossen. 17 Stockwerke unter ihm lag eine weite
Fläche grüner Bäume. Ein angenehm leichter, warmer Wind
umsauste ihn. Er war angekommen.
Weiter zu Kapitel 2.
|