Kapitel 2
Ahorntaschen zum Frühstück
Teil 1


Es ist jetzt vermutlich der rechte Zeitpunkt, verschiedene Dinge ins rechte Licht zu rücken. Noch ehe sich ein falscher Eindruck beim Leser gebildet haben kann, noch ehe auch der Erzähler vielleicht einen Stil entwickeln konnte, der eventuell Irregeführte noch weiter verwirrt. Das Wichtigste zuerst: Erzähler und Hauptfigur dieser eigenartigen Begebenheiten sind nicht ein und dieselbe Person. Daß K., wir wollen ihn weiterhin so nennen, obwohl der Erzähler und auch ich seinen vollen Namen selbstverständlich kennen, mich gebeten hat, aufzuschreiben was geschah, und nicht weiter selbst in die Tasten greifen mochte, hat - wie alles menschliche Tun und Irren - viele Gründe. Einer wird wohl sein, daß ihm zu schriftstellerischen Unternehmungen schlicht die Zeit fehlt. Außerdem - und ich hoffe, daß die Weitergabe dieser Tatsache nicht den Eindruck entstehen läßt, ich sei eitel (obwohl diese Gefahr durch das Äußern der Hoffnung sicherlich noch vergrößert wird) - war K. der Ansicht, das Erzählte lese sich leichter wenn nicht er es "daherstammle" (das war ja wirklich das Wort, das er gebrauchte), wenn stattdessen ich meine "Kunst" "walten" ließe. Er selbst sei ja schließlich eher Wissenschaftler, und daß die nicht schreiben können, sehe man ja auf den ersten Blick am Stil ihrer unlesbaren Veröffentlichungen. Schon an den Seitenzahlen zu Füßen dieser sogenannten Artikel sehe man das.
Nun, wie dem auch sei. Jedenfalls ist K. nicht der Erzähler dieser Geschichte. Aber auch ich bin es nicht, denn ich fasse nur getreu in Worte, was K. mir von seinen Erlebnissen berichtet, erfinde nichts hinzu und lasse nichts fort. Weitgehend.
Und das ist, was den Erzähler überhaupt veranlaßt haben dürfte, mich zu erfinden und vorzuschieben (denn innerhalb des Textes bin ich nicht mehr als der Schatten eines Sekretärs, dessen Finger rastlos Schattentasten drücken, und der Erzähler selbst hat alle Wirklichkeit): der Hinweis auf die vollständige Wahrhaftigkeit des Geschilderten und doch auch auf seinen zutiefst fiktiven Charakter. Alles wird so aufrichtig berichtet wie nur möglich, und doch ist jedes Wort gelogen. Was ich dem Erzähler in den Mund lege, während er mir und Ihnen erzählt, und was K. mir zuvor berichtete, sind nicht mehr als zwei verschiedene Coverversionen eines vergessenen Rocksongs. Und mit diesem wackligen Bild schließe ich meine Ausführungen und überlasse dem Erzähler wieder die Bühne.
Halt, nein: ein Weiteres bleibt mir anzumerken. Das erste Kapitel, die Beschreibung der Reise und der Ankunft in Kanada, stammte noch von K. selbst. Als ihm aufging, daß er nicht mochte, was er geschrieben hatte, bat er mich, das Durcheinander in eine Form zu bringen, die es dem Leser erlaubt, dem Geschehen einigermaßen zu folgen. Freilich wollte ich dem Text keine Gewalt antun, und beließ vieles von dem, was K. für den authentischen Ausdruck seiner fiebrigen Erkrankung gehalten hatte, wie es war, auch wenn dadurch mancherlei nicht auf Anhieb verständlich sein mag.
Ich habe mich auch dagegen entschieden, das erste Kapitel bis zu seinem logischen Ende, der Ankunft in K.s vorübergehendem Quartier, weiterzuführen. Dazu ist jetzt noch Zeit genug, während K. mit Douglas und dessen Bruder Dean auf dem Weg zum Lakeview-Restaurant ist, um dort zu sein erstes amerikanisches Frühstück einzunehmen. Und nebenbei zu erproben, ob es bliebe wo es bleiben sollte.

Seine wichtige Frage war K. nicht wieder eingefallen, nachdem er das angenehme Ankunftsgefühl gespürt hatte, auf dem Balkon des Hochhauses, das er in der ersten Verwirrung für eine Laterne gehalten hatte. Dafür aber war es ihm eingefallen, für sein verlorenes Gepäck zu sorgen. Noch immer krank und ermüdet (schließlich war es rechtens zwei Uhr nachts, auch wenn die ausländische Sonne draußen das nicht begreifen mochte), hatte er es Douglas überlassen, der Fluggesellschaft die Adresse zu nennen, zu der sein Koffer und die Tasche gebracht werden sollten, wenn beide erst gefunden waren. Die Racker. Und nach Toronto geflogen.
Danach hatte K. sich auf einen Heilungsschlaf hoffend in das mächtige Bett verfrachtet, verwirrt die zahlreichen fremden Laken inspiziert und raschen Schlaf gefunden.
Der allerdings viel zu früh enden sollte, unter Umständen, von denen nicht mehr verraten werden soll, als daß sie mit der abklingenden Erkrankung eng zusammenhingen bzw. fließend aus ihr hervorgingen (K. war beim Probelesen hier der Ansicht, auch das sei schon zuviel gesagt, aber ein paar Freiheiten muß er dem Erzähler schon gestatten, wenn er seine Arbeit gut machen soll, und obendrein haben die Leser ein Recht, alles zu erfahren). Jedenfalls war K. nun also wach und zunächst mit Verrichtungen beschäftigt, die aus ähnlichen Gründen im Dunkeln zu bleiben haben wie ihre Ursache (übrigens war es tatsächlich dunkel und etwa vier Uhr Ortszeit). Den Rest des erwachenden Morgens verbrachte K. im Sitzen. Und damit, abwechselnd ein Buch über den mangelnden Humor der Deutschen, und eines über die echte romatische Artusdichtung zu lesen. Beide waren auf Anhieb zu entdecken gewesen. Versuche, aus der Sitzenden in eine liegende Stellung zu wechseln, zunächst im Bett, dann in der Badewanne, wurden abgebrochen. Die zentrale These des einen Buches schien zu sein, daß die Verkümmerung dessen, was Witz bezeichnete - von einer Charaktereigenschaft zum lustig gemeinten Kurztext - in Deutschland in der Weigerung des Bürgertums begründet sei, die geistreichen Formen des Adels zu assimilieren, und in der Tatsache, daß statt verbürgerlichter Fürsten und neuadliger Bürger eine verstockte Kriegerkaste die Führung übernahm. Oder umgekehrt. Es war jedenfalls ein Fischer-Taschenbuch. K. wechselte, von all der Bürgerlichkeit zersessen, Backe und Buch. Das größte Rätsel im Artusbuch schien K. die Tatsache, daß auch der wackere Lancelot ein Schwert aus einem Stein herauszupfte, während König Artus mit all den wackeren Rundenritten daneben stand und keinen Ton sagte. Dabei hatte doch auch er, dachte K. milde benebelt von der Dauersitzung, einst gezupft, und müßte sich doch nun erinnern. Und irgendwas sagen. K. schloß die Augen.
"Das ist jetzt witzig", sagte König Artus, "das erinnert mich daran, wie ich damals Excalibur gefunden". Parzifal machte ein gurgelndes Geräusch. "Nicht schon wieder, Herr Gardeadmiral. Haben die Geschichte schon so oft gehört." Parzifals Stimme war schnarrend geworden, umgezogen hatte er sich auch und trug nun eine elegante Offiziersuniform. Kaiserreich, dachte K. schläfrig. "Lang lebe Kaiser Wilhelm Artus, wenn er nur nicht so viel erzählen wollte", schnarrte Parzifal und schlug K. mit einem breiten Porzellanschwert auf den dröhnenden Grind. Boeing. Auf dem Boden erwachte K. gemächlich von Neuem.

Der Morgen brach nun über diesen lustigen Spielen endgültig an. Und seine wichtige Frage war K. schon, bzw. immer noch nicht wieder eingefallen. Und erinnert hatte er sie auch nicht. Geschweige denn sich an sie. Zum Teufel!
Für den späteren Vormittag war das Frühstück im Lakeview vorgesehen, zu dem man im Moment ja auch auf dem Weg ist, und bei dem K. Dean kennenlernen sollte, der sein Gastgeber sein würde, während er ein bezahlbares und reizendes Zimmer in einer bezaubernden Wohngegend suchte. Dachte K.
Das Gepäck war noch nicht eingetroffen, als der Termin für das Frühstück schon bedenklich nahe rückte. Ein erneuter Anruf bei der Fluggesellschaft versorgte diese, und vor allem die starken kanadischen Burschen in karierten Hemden, die in deren Auftrag die verlorenen Köffer auslieferten, mit Deans Adresse ("31 Harrison Street" hörte K. Entschlossen, sich die Anschrift gleich jetzt und hier zu merken, für härtere Zeiten, in denen man sich über jedes noch so bescheidenes Stück Erinnerung freute). Das Gepäck würde also wohl seinen aufrechten Gang gehen und bald eintreffen. Auch die Drei Frühstücker scheinen übrigens etwas schneller gegangen zu sein, als es den Anschein hatte. Man erreicht soeben das Lakeview. Aber es bleibt ohenhin nicht mehr viel alte Wäsche zu waschen. Douglas und K. waren durch angenehme, breite und sehr nordamerikanische Straßen, gesäumt von höchstens dreigeschossigen Gebäuden zur Harrison Street gefahren, wo Dean in einem hübschen Reihenhäschen aus roten Ziegeln das Erdgeschoß und den Keller bewohnte und Douglas eine überraschende Entdeckung machte. Ein erneuter Anruf bei der Fluggesellschaft folgte unmittelbar auf die Szene, in der alle Beteiligten einander vorgestellt werden und sich dann ein wenig auf englisch unterhalten, was einer von ihnen fast gar nicht versteht, weil es so schnell geht und er immer noch auf deutsch denkt. Die Gesellschaft wurde von einer plötzlichen Änderung der Hausnummer unterrichtet, und ob die Stimme an der anderen Seite Anspielungen auf von übersinnlichen Kräften herumgetragene Häuser machte, sollte K. nie.. aber jetzt betreten die drei endgültig das Lakeview, K. voran. Man kann hören, wie er von Douglas wieder zurückgerufen wird, denn in nordamerikanischen Restaurants bekommt man seinen Platz vom Kellner angewiesen. Raucher oder Nichtraucher? Aha. An den Wänden hängen schön gerahmte alte Fotographien, der Raum ist prächtig mit Menschen gefüllt, und da werden die Drei auch schon an einen Tisch geführt. Der jetzt wohl für eine kurze Zeit der ihre ist. Und weil eigentlich nach der Vorstellung in Deans Haus und dem Telefonat nichts weiter passiert ist als der Fußmarsch hierher, kehrt die Handlung nun endgütig zurück in die Gegenwart, wo eine wichtige Entscheidung unmittelbar bevorsteht.

Weiter zu Teil 2.