Es ist jetzt vermutlich der rechte Zeitpunkt, verschiedene Dinge ins rechte
Licht zu rücken. Noch ehe sich ein falscher Eindruck beim Leser gebildet
haben kann, noch ehe auch der Erzähler vielleicht einen Stil entwickeln
konnte, der eventuell Irregeführte noch weiter verwirrt. Das Wichtigste
zuerst: Erzähler und Hauptfigur dieser eigenartigen Begebenheiten sind
nicht ein und dieselbe Person. Daß K., wir wollen ihn weiterhin so nennen,
obwohl der Erzähler und auch ich seinen vollen Namen selbstverständlich
kennen, mich gebeten hat, aufzuschreiben was geschah, und nicht weiter selbst in
die Tasten greifen mochte, hat - wie alles menschliche Tun und Irren - viele
Gründe. Einer wird wohl sein, daß ihm zu schriftstellerischen
Unternehmungen schlicht die Zeit fehlt. Außerdem - und
ich hoffe, daß die Weitergabe dieser Tatsache nicht den Eindruck entstehen
läßt, ich sei eitel (obwohl diese Gefahr durch das
Äußern der Hoffnung sicherlich noch vergrößert wird) - war
K. der Ansicht, das Erzählte lese sich leichter wenn nicht er es "daherstammle"
(das war ja wirklich das Wort, das er gebrauchte), wenn stattdessen ich meine "Kunst"
"walten" ließe. Er selbst sei ja schließlich eher Wissenschaftler,
und daß die nicht schreiben können,
sehe man ja auf den ersten Blick am Stil ihrer unlesbaren Veröffentlichungen.
Schon an den Seitenzahlen zu Füßen dieser sogenannten Artikel
sehe man das.
Nun, wie dem auch sei. Jedenfalls ist K. nicht der Erzähler dieser Geschichte.
Aber auch ich bin es nicht, denn ich fasse nur getreu in Worte, was K. mir
von seinen Erlebnissen berichtet, erfinde nichts hinzu und lasse nichts fort.
Weitgehend.
Und das ist, was den Erzähler überhaupt veranlaßt haben dürfte,
mich zu erfinden und vorzuschieben (denn innerhalb des Textes bin ich nicht mehr
als der Schatten eines Sekretärs, dessen Finger rastlos Schattentasten
drücken,
und der Erzähler selbst hat alle Wirklichkeit): der Hinweis auf die
vollständige Wahrhaftigkeit des Geschilderten und doch auch auf seinen
zutiefst fiktiven Charakter. Alles wird so aufrichtig berichtet wie nur
möglich, und doch ist jedes Wort gelogen. Was ich dem Erzähler in den
Mund lege, während er mir und Ihnen erzählt, und was K. mir zuvor berichtete,
sind nicht
mehr als zwei verschiedene Coverversionen eines vergessenen Rocksongs. Und mit diesem
wackligen Bild schließe ich meine Ausführungen und überlasse
dem Erzähler wieder die Bühne.
Halt, nein: ein Weiteres bleibt mir anzumerken. Das erste Kapitel, die Beschreibung
der Reise und der Ankunft in Kanada, stammte noch von K. selbst. Als ihm aufging,
daß er nicht mochte, was er geschrieben hatte, bat er mich, das
Durcheinander in eine Form zu bringen, die es dem Leser erlaubt, dem Geschehen
einigermaßen zu folgen. Freilich wollte ich dem Text keine
Gewalt antun, und beließ vieles von dem, was K. für den authentischen
Ausdruck seiner fiebrigen Erkrankung gehalten hatte, wie es war, auch wenn
dadurch mancherlei nicht auf Anhieb verständlich sein mag.
Ich habe mich auch dagegen entschieden, das erste Kapitel bis zu seinem logischen
Ende, der Ankunft in K.s vorübergehendem Quartier, weiterzuführen. Dazu
ist jetzt noch Zeit genug, während K. mit Douglas und dessen Bruder Dean auf
dem Weg zum Lakeview-Restaurant ist, um dort zu sein erstes
amerikanisches Frühstück einzunehmen. Und nebenbei zu erproben, ob
es bliebe wo es bleiben sollte.
Seine wichtige Frage war K. nicht wieder eingefallen, nachdem er das angenehme
Ankunftsgefühl gespürt hatte, auf dem Balkon des Hochhauses,
das er in der ersten Verwirrung für eine Laterne gehalten hatte. Dafür
aber war es ihm eingefallen, für sein verlorenes Gepäck zu sorgen.
Noch immer
krank und ermüdet (schließlich war es rechtens zwei Uhr nachts,
auch wenn die ausländische Sonne
draußen das nicht begreifen mochte), hatte er es Douglas überlassen,
der Fluggesellschaft die Adresse zu nennen, zu der sein Koffer und die Tasche
gebracht werden sollten, wenn beide erst gefunden waren. Die Racker. Und nach
Toronto geflogen.
Danach hatte K. sich auf einen
Heilungsschlaf hoffend in das mächtige Bett verfrachtet, verwirrt die
zahlreichen fremden Laken inspiziert und raschen Schlaf gefunden.
Der allerdings viel zu früh enden sollte, unter Umständen, von denen
nicht mehr verraten werden soll, als daß sie mit der abklingenden Erkrankung
eng zusammenhingen bzw. fließend aus ihr hervorgingen
(K. war beim Probelesen hier der Ansicht, auch das sei schon zuviel gesagt, aber ein
paar Freiheiten muß er dem Erzähler schon gestatten, wenn er seine Arbeit
gut machen soll, und obendrein haben die Leser ein Recht, alles zu erfahren).
Jedenfalls war K. nun also wach und zunächst mit Verrichtungen
beschäftigt, die aus ähnlichen Gründen im Dunkeln zu bleiben haben
wie ihre Ursache (übrigens war es tatsächlich dunkel und etwa vier Uhr
Ortszeit). Den Rest des erwachenden Morgens verbrachte K. im Sitzen. Und damit,
abwechselnd ein Buch über den mangelnden Humor der Deutschen, und eines
über die echte romatische Artusdichtung zu lesen. Beide waren auf Anhieb
zu entdecken gewesen. Versuche, aus der Sitzenden in eine
liegende Stellung zu wechseln, zunächst im Bett, dann in der Badewanne, wurden
abgebrochen. Die zentrale These des einen Buches schien zu sein, daß die
Verkümmerung dessen, was Witz bezeichnete - von einer
Charaktereigenschaft zum lustig gemeinten Kurztext - in Deutschland in der
Weigerung des Bürgertums begründet sei, die geistreichen Formen
des Adels zu assimilieren, und in der Tatsache, daß statt
verbürgerlichter Fürsten und neuadliger Bürger eine
verstockte Kriegerkaste die Führung übernahm. Oder umgekehrt. Es war
jedenfalls ein Fischer-Taschenbuch. K. wechselte, von all der Bürgerlichkeit
zersessen, Backe und Buch. Das größte Rätsel im Artusbuch schien K.
die Tatsache, daß auch der wackere Lancelot ein Schwert aus einem Stein
herauszupfte, während König Artus mit all den wackeren Rundenritten
daneben stand und keinen Ton sagte. Dabei hatte doch auch er, dachte K. milde
benebelt von der Dauersitzung, einst gezupft, und müßte sich doch nun
erinnern. Und irgendwas sagen. K. schloß die Augen.
"Das ist jetzt witzig", sagte König Artus, "das erinnert mich daran, wie ich
damals Excalibur gefunden". Parzifal machte ein gurgelndes Geräusch. "Nicht
schon wieder, Herr Gardeadmiral. Haben die Geschichte schon so oft gehört."
Parzifals Stimme war schnarrend geworden, umgezogen hatte er sich auch und trug
nun eine elegante Offiziersuniform. Kaiserreich, dachte K. schläfrig.
"Lang lebe Kaiser Wilhelm Artus, wenn er nur nicht so viel erzählen wollte",
schnarrte Parzifal und schlug K. mit einem breiten Porzellanschwert auf den
dröhnenden Grind. Boeing. Auf dem Boden erwachte K. gemächlich von Neuem.
Der Morgen brach nun über diesen lustigen Spielen endgültig
an. Und seine wichtige Frage war K. schon, bzw. immer noch nicht wieder
eingefallen. Und
erinnert hatte er sie auch nicht. Geschweige denn sich an sie. Zum Teufel!
Für den späteren Vormittag war das Frühstück
im Lakeview vorgesehen, zu dem man im Moment ja auch auf dem Weg ist, und bei dem
K. Dean kennenlernen sollte, der sein Gastgeber sein würde, während
er ein bezahlbares und reizendes Zimmer in einer bezaubernden Wohngegend suchte.
Dachte K.
Das Gepäck war noch
nicht eingetroffen, als der Termin für das Frühstück schon bedenklich
nahe rückte. Ein erneuter Anruf bei der Fluggesellschaft versorgte diese,
und vor allem die starken kanadischen Burschen in karierten Hemden, die in deren
Auftrag die verlorenen Köffer auslieferten,
mit Deans Adresse ("31 Harrison Street" hörte K. Entschlossen, sich die
Anschrift gleich jetzt und hier zu merken, für härtere Zeiten, in denen
man sich über jedes noch so bescheidenes Stück Erinnerung freute).
Das Gepäck würde also wohl seinen aufrechten Gang gehen und bald eintreffen.
Auch die Drei Frühstücker scheinen übrigens etwas schneller gegangen zu
sein, als es den Anschein hatte. Man erreicht soeben das Lakeview.
Aber es bleibt ohenhin nicht mehr viel alte Wäsche zu waschen.
Douglas und K. waren durch angenehme, breite und sehr nordamerikanische
Straßen, gesäumt von höchstens dreigeschossigen Gebäuden
zur Harrison Street gefahren, wo Dean in einem hübschen Reihenhäschen
aus roten Ziegeln das Erdgeschoß und den Keller bewohnte und Douglas
eine überraschende Entdeckung machte. Ein
erneuter Anruf bei der Fluggesellschaft folgte unmittelbar auf die Szene,
in der alle Beteiligten einander vorgestellt werden und sich dann ein wenig
auf englisch unterhalten, was einer von ihnen fast gar nicht versteht, weil es
so schnell geht und er immer noch auf deutsch denkt. Die Gesellschaft wurde von
einer plötzlichen Änderung der Hausnummer unterrichtet, und ob die
Stimme an der anderen Seite Anspielungen auf von übersinnlichen Kräften
herumgetragene Häuser machte, sollte K. nie.. aber jetzt betreten
die drei endgültig das Lakeview, K. voran.
Man kann hören, wie er von Douglas wieder zurückgerufen wird, denn in
nordamerikanischen Restaurants bekommt man seinen Platz vom Kellner angewiesen.
Raucher oder Nichtraucher? Aha. An
den Wänden hängen schön gerahmte alte Fotographien, der Raum ist
prächtig mit Menschen gefüllt, und da werden die Drei auch schon an
einen Tisch geführt. Der jetzt wohl für eine kurze Zeit der ihre ist.
Und weil eigentlich nach der Vorstellung in Deans Haus und dem Telefonat nichts weiter
passiert ist als der Fußmarsch hierher, kehrt die Handlung nun endgütig
zurück in die Gegenwart, wo eine wichtige Entscheidung unmittelbar bevorsteht.
Weiter zu Teil 2.
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