Genista Wissenschaft
Johann Jakob Thill

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Ulrich Stolte

Frühes Idol schwäbischer Dichter
Johann Jakob Thill
1747-1772
Biographie und kommentierte Werkedition

26,25 Euro
ISBN 3-930171-25-2

 

Vorwort

229 Jahre nach seinem Tod liegt hier erstmals eine Gesamtausgabe der Werke des Tübinger Stiftlers Johann Jakob Thill vor, geboren 1747 in Stuttgart und gestorben 1772 in Großheppach bei Waiblingen. Welchen Grund gibt es, in Nachlässen, Zeitschriften, Autographensammlungen und Almanachen die verstreuten Publikationen eines Dichters zu sammeln, über den die Zeit schon ihr Urteil gesprochen zu haben scheint?

Der Grund ist nichts weniger als ein Gedicht: Die 1789 entstandene Ode "An Thills Grab" des damals 19jährigen Friedrich Hölderlin. In diesem gefühlvollen Grabgesang auf den "Guten", der so "frühe" dahin eilte, zeigte sich der junge Hölderlin sehr von dem Schicksal des frühverstorbenen Johann Jakob Thill bewegt. Als nach weiteren Forschungen das wenn auch zurückhaltende Lob des 23jährigen Schillers auftauchte, schien klar: Was einem Hölderlin recht und einem Schiller billig war, das konnte nicht ganz so unbedeutend gewesen sein. Zuletzt schwang auch ein wenig Respekt vor dem bescheidenen und kurzen Leben des Dichters mit, diese Sammlung anzulegen: Er sollte doch nicht ganz vergeblich auf Erden gewirkt haben.

Die Suche nach Texten und Fakten aus seinem Leben war nach so langer Zeit zwar mühsam, aber ein entscheidendes Faktum half hier: Dass nämlich das Leben Thills zum Teil in einen Roman verwoben war. Das Buch David Christoph Seybolds: "Hartmann, eine wirtembergische Klostergeschichte" von 1778 verwob die Biographien Thills und Seybolds selbst in einem Charakter namens "Samuel Hartmann", der exemplarisch die theologische Ausbildung in den württembergischen Klosterschulen durchlief. Zwar war es nicht einfach, Erdichtetes von Geschehenem zu trennen, doch stand mit einmal die Welt vor Augen, in der sich Thill bewegt hatte: Ideen und Probleme der Zeit, Hoffnungen, Enttäuschungen, kollektive Schicksale der Tübinger Stiftler, die eigentlich die Probleme aller Schüler sind: Qual und Freude erster Liebe, Streit mit den Lehrern, Neid der Mitschüler.

Zusätzlich zu Werk und Biographie ist dem Buch eine Wirkungsgeschichte beigegeben ist. Doch ließ sich nur durch eine Gesamtschau der literarischen Resonanzen ermitteln, wo überhaupt Werke Thills veröffentlicht worden waren. Und jeder, der Gedichte Thills herausgegeben hatte, konnte in seinem Nachlass ein Manuskript überliefert haben. Die Suche war erschöpfend - und der Zufall half mit. So kamen nicht nur 27 Gedichte, zwei Dramenfragmente, zwei fragmentarische Briefe ans Licht, sondern auch ein tatsächlich das einzige noch erhaltene historische Handschriftenblatt mit einem Gedicht Thills zum Vorschein.

Thill war für einige Jahrzehnte nach seinem Tod zu einer Identifikations- und Galionsfigur geworden für die Anfang der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts aufkommenden schwäbischen Klassizisten, von denen viele am Tübinger Stift studiert hatten. Besonders Thills früher Tod in dem damals als amusisch verschrieenen Württemberg ließ ihn der neuen Dichtergeneration als Märtyrer für ihre poetischen Anliegen erscheinen.

Thill war nicht der erste Stiftler, der nach dem 30jährigen Krieg in Tübingen deutsche Gedichte schrieb, wohl aber der erste, der literarische Wirkung hervorbrachte. So wie den Stiftlern damals ist uns auch heute noch Thill als junger Dichter vor Augen. Er nahm die Zeitströmungen auf und machte Versuche in den verschiedenen Stilen der Epoche, ohne jedoch eine feste Richtung eingeschlagen zu haben, ebenso wie jeder junge Dichter, der seinen Stil noch nicht gefunden hat. Wir finden anakreontische Lieder genauso wie das empfindsame Preisen der Freundschaft; Thill schrieb satirische wie vaterländische Lieder, die an Klopstocks Bardengesängen orientiert scheinen. Welchen Weg er eingeschlagen hätte? Aus den nur dem Titel nach bekannten Schriften, in denen es um die zentrale Frage des Geschmacks ging, wäre er wohl weiter in Richtung Empfindsamkeit gegangen, nach seinen letzten Gedichten hätte er sich möglicherweise parallel zu den Lyrikern des Göttinger Hain entwickelt.

Es kam nicht mehr dazu. Etwa zur gleichen Zeit als der zwei Jahre jüngere Goethe mit dem Sturm und Drang die Welt der Literatur durcheinanderwirbelte, starb Johann Jakob Thill im Alter von etwas über 24 Jahren.

Eine bescheidene Grazie wurde Thill einmal attestiert, und wenn wir das Wort "bescheiden" auf den Dichter selbst und das Wort "Grazie" auf seine Verse anwenden, dann können wir dem zustimmen: (23.) "Aussicht zu Anfange des Jänners 1772", (16.) "Vorsaz mich zu freuen", (14.) "Bei anscheinender Wiederkehr des Frühlings" sind solche anmutigen und auch heute noch lesenswerten Gedichte. Auch das epische Fragment, die "Böhmiade", ist gelungen. Vor allem, weil Thill mit treffendem Witz Dinge beschreibt, die man heute noch in manchem der obskuren christlichen Zirkel vorfinden kann.

Interessant ist, daß Beispiele lateinischer Schuldichtung erhalten sind. Wir wissen, es haben auch Hölderlin und Wieland in den württembergischen Klosterschulen solche Verse gemacht, doch hielten es Autoren und Editoren nicht für Wert, lateinische Gedichte zu überliefern. Interessant auch, daß Thill die klassischen Versmaße beherrschte, aber noch nicht den Schritt wagte, sie im Deutschen zu benutzen. Ganz deutlich sehen wir bei Thill eines: Versmaße wurden aus dem Kirchenlied in die weltliche Lyrik übernommen, also übten schon zu diesem frühen Zeitpunkt die württembergischen Dichterpfarrer großen Einfluß auf die zeitgenössische Literatur aus.

Wenn uns heute Hölderlin oder Schiller als in unerreichten Höhen wirkend vorkommen, so mag das auch daran liegen, daß wir nur noch die Penthäuser, nicht aber das ganze Gebäude der Literatur von damals kennen: Die unzähligen kleinen Dichter, die vergessenen Dichterschulen und Lyrikzirkel, die nur ein paar Ausgaben währenden poetischen Journale.

Johann Jakob Thill war einer dieser Dichter. Sein Werk, ja die ganze Dichterschule um Gotthold Friedrich Stäudlin, die ihn zum frühen Vorbild erkor, ist im Grunde vergessen. Thills Pläne und seine Ziele waren ins Leere gerichtet, sie wurden von der Literaturgeschichte überrollt, die andere Dichter geschrieben haben.

Aber wenn es auch nur zu dem Zwecke dienen sollte, das Frühwerk Hölderlins oder Schillers besser zu verstehen, so war es doch nötig, die Werke Johann Jakob Thills wenigstens einmal in einer Ausgabe zu sammeln - und wenn es auch 229 Jahre gedauert hat.