Jenseits der Portage erwartet uns eine veränderte Landschaft. Wir sind jetzt in
einem Sumpfgebiet, die Ufer des Flüsschens sind morastig, das Wasser voller
Pflanzengeschling und blühender Seerosen. Genista entdeckt einen
handtellergroßen Frosch, der in den Schlingpflanzen auf Libellen lauert. Nur der
Kopf mit den vorstehenden, goldenen Augen ragt aus dem Wasser. Stoisch verlässt
sich das Amphibium auf seine Tarnfarben, als wir bis auf wenige Zentimeter
heranpaddeln und es abfotografieren. Wir sind noch ganz erfüllt von dieser
außergewöhnlichen Begegnung, als Genista einen zweiten Frosch an Backbord
meldet. Dieses Exemplar ist womöglich noch größer als sein Artgenosse. Es
erleidet das gleiche Schicksal. Wenig später erspähe ich zwei goldene Murmeln
auf der Wasseroberfläche, es hängt ein Frosch daran. Bei Zwanzig hören wir auf,
zu zählen. Innerhalb einer halben Stunde sehe ich mehr Frösche als zuvor in
meinem gesamten Stadtbewohnerdasein.
Nun aber geht es nicht weiter, die Natur hält einen weiteren Höhepunkt
für uns bereit, sie hat einen pittoresken Biberdamm auf unseren Weg gelegt.
Dahinter spiegelt sich der Nadelwald in einem kleinen Teich. Wir müssen lange
suchen, bis wir das gelbe Portageschild an einem der jenseitigen Bäume
entdecken. Der Damm dient uns als Landungsbrücke, er ist elastisch, aber äußerst
stabil. Eine weitere kleine, unspektakuläre Portage später beladen wir unser
Kanu an einem morastigen Ufer voller Schuhabdrücke. Ich will gerade ins Boot
steigen, als Genista nach mir ruft. Er zeigt auf eine Stelle neben einem Stein.
Im weichen Untergrund ist eine ovale Mulde erkennbar, darüber vier kleinere,
fast kreisförmige Abdrücke. Die Spur ist so lang wie mein Fuß und dreimal so breit. Ich
blicke auf den Abdruck der Vorderpranke eines ausgewachsenen Bären.
Genaugenommen ist es nur der halbe Abdruck - Ballen und Zehen; die Stelle, an
der die Ferse den Boden berührt hat, ist nicht zu erkennen. Nicht weit davon
entfernt entdecke ich eine frischere Bärenspur, halb zerstört von einer
genoppten Schuhsohle. Hier sind deutlich die Abdrücke der Klauen zu sehen.
Vielleicht ein wenig schneller als sonst besteigen wir das Boot und
wollen gerade lospaddeln, als ein Kanu in der Flussbiegung erscheint und auf den
Landeplatz zusteuert. Darin sitzen zwei Männer, die mit ihren Tarnhosen und
verwegenen Vollbärten so aussehen, als würden sie die Tiere des Waldes
gelegentlich auch gerne durch ein Zielfernrohr betrachten. Sie informieren uns,
dass bis zur nächsten Portage vier Biberdämme zu überwinden sein werden. Wir
revanchieren uns mit dem Hinweis auf unseren Fährtenfund. Als ich mich im
Davonpaddeln noch einmal umdrehe, sehe ich, wie die beiden die Spuren
fotografieren.
Jetzt liegt eine lange, gewundene Paddelstrecke vor uns. Schon bald
erreichen wir den ersten Biberdamm, er hat in der Mitte eine breite Lücke, die
sich problemlos durchfahren lässt. Auch die drei weiteren Dämme auf unserem Weg
sind mit einer praktischen Fahrrinne ausgestattet. Wir fühlen uns veralbert.
Inzwischen ist Mittag, und wir haben die Hälfte der längsten Flussetappe
hinter uns. Wir lassen das Kanu am Ufer dümpeln und picknicken Cream Cheese-Bagels
und Trockenfleisch. Im klaren Wasser wimmelt es von Fischen. Als Genista
einen größeren erspäht, erwacht in ihm der Jagdtrieb und er wirft die Angel aus.
Sofort bildet sich eine neugierige Fischtraube um den Köder. Ich mag nicht
hinsehen und wende mich wieder meinem Bagel zu. Dann kommt es, wie es kommen
muss, ein Fisch hängt an der Angel, er ist vielleicht fünfzehn Zentimeter lang.
Vorsichtig pflückt Genista seinen Jungfernfang vom Haken und setzt ihn ins
Wasser, wo er seiner Wege schwimmt, als sei nichts geschehen. Gleich nebenan
stülpt sich Otterslide Creek zu einem kleinen See aus, dort will Genista nun
hin, denn dort vermutet er den kapitalen Barsch, den er heute Abend über dem mit
eigenen Händen errichteten Feuer braten will, wie es der von der Wildnis
erweckte Instinkt von ihm verlangt. Der See ist nicht mehr als ein seichter
Tümpel, mühelos sehe ich bis auf den sandigen Grund, da sind merkwürdige
Vertiefungen, oval mit mehren kleinen, runden darüber. Nein, wir sind nicht die
einzige Säugetierspezies hier, die gelegentlich gerne Fisch isst. Ich hebe den
Blick, an dieser Stelle führt ein Tierpfad zum See, und ich weiss sowieso schon,
dass der Bär auch dort seine Spuren hinterlassen hat. Nun habe ich aber doch ein
bisschen die Nase voll, ich möchte weiterfahren, doch Ahab Genista sträubt sich,
mit irr flackerndem Blick hält er die Angel ins Gewässer, während er mich
bezichtigt, der Erfüllung seines vom Schicksal auferlegten Auftrags im Weg
stehen zu wollen. In so einer Situation hilft nur resigniertes, dumpfes Brüten.
Nach einer Viertelstunde zeitigen die Resignationsstrahlen, die ich aussende,
den gewünschten Effekt. Beleidigt holt Genista den Köder ein und wir nehmen auf
dem Creek Kurs nach Norden.
Wir sind noch nicht weit gepaddelt, als wir ihn sehen: Groß und
braunschwarz versperrt er uns den Weg, respektvoll drosseln wir das Tempo. Ein
strenger Geruch steigt uns in die Nase. Tatsächlich, das ist ein richtiger,
ausgewachsener Biberdamm, die Trapper haben nicht übertrieben. Die Zweige der
obersten Schicht tragen noch ganz frische, grüne Blätter, sie wurden
offensichtlich erst in der vergangenen Nacht hier abgelegt. Wir setzen das Kanu
mit der Nase auf den Damm, dann müssen wir aussteigen, mitten hinein ins
schwankende Gezweig, und ziehen. Der Damm ist etwa einen Meter hoch, auf der
anderen Seite ist der Wasserpegel niedriger. Das Kanu liegt jetzt auf dem
Scheitelpunkt den Damms wie auf einer Wippe. Ich sehe unsere Ausrüstung im
Geiste schon in stinkendem Biberexkrementschlamm versinken, aber als wir dem
Boot einen beherzten Schubs geben, vollführt es einen vorbildlichen Stapellauf.
Wir bugsieren das Kanu ans Ufer, spülen den dubiosen Matsch von unseren Füßen
und steigen ein.
Mit dieser Methode überwinden wir auch Biberdamm zwei und drei. Wir
finden inzwischen, dass die Natur ganz schön nerven kann. Derbe
Unmutsäusserungen gegen die Biber werden laut. Damm Nummer vier bringt uns zum
Schweigen. Das ist eine Zumutung von einem Biberdamm, an der anderen Seite geht
es zwei Meter in die Tiefe, nie und nimmer werden wir das Kanu komplett mit
Inhalt dort hinunterbefördern können. Wir überlegen, ob wir uns womöglich
verfahren haben, als wir jenseits des Dammes ein flaches, gerodetes Uferstück
entdecken, zu dem ein Pfad führt. An unserer Seite ist der Zugang zum Pfad
hinter niedrigem Weidengezweig versteckt, deshalb hatten wir ihn zunächst
übersehen. Es ist nicht ganz einfach, das Kanu durchs Gestrüpp zu bugsieren. Als
ich aussteige, sinke ich knöcheltief in schwarzen Morast ein. So waten wir, das
Boot schiebend und ziehend, die Umleitung entlang zum rettenden Uferstreifen.
Das Ufer ist einen halben, steilen Meter hoch, also müssen wir das Kanu parallel
zur Böschung ins Wasser setzen. Achtzig sperrige Kilogramm wolllen präzise
bewegt werden und dürfen auf keinen Fall im falschen Moment herunterfallen.
Wider Erwarten gelingt das delikate Manöver. Wir haben den Biber besiegt.
Der Triumph währt jedoch nicht lange, die nächste Schikane wartet bereits
in Gestalt der längsten Portage dieser Etappe. Drei mal 730 Meter (mit Gepäck,
ohne Gepäck, mit Kanu) liegen vor uns. Das Portageschild, das oberhalb des
steilen, steinigen Ufers an eine stattliche Rotkiefer gepinnt ist, hängt in
Fetzen herunter. Wir wundern uns über diesen sinnlosen Akt von Vandalismus. Als
wir uns das Schild näher ansehen, stellen wir fest, dass es mehrere, parallele
Risse hat. Einer davon beginnt, deutlich erkennbar, nicht am Rand des Bogens,
sondern in seinem Inneren. Ich fasse das Schild an. Es besteht aus
glatter, nahezu unzerreißbarer PVC-Folie.
Ich weiss, wie es nun weitergehen wird. Ich habe in meinem Leben genug
Horrorfilme gesehen, um die ehernen Gesetze der Dramaturgie zu kennen.
Vergangene Nacht habe ich ein Buchkapitel über Bärenattacken gelesen und ich bin
mit jemandem unterwegs, der auf meine vollkommen vernünftigen und
gerechtfertigten Bedenken hin achselzuckend verkündet hat, er "glaube nicht an
Bären". Wir haben Bärenprankenabdrücke gesehen, wir haben gesehen, was
Bärenklauen mit einem Stück PVC-Folie machen können. Die Szene, in der wir dem
Bären begegnen, steht jetzt also unmittelbar bevor. Er wird hinter einer
Wegbiegung auf uns lauern und zunächst den Ungläubigen fressen. Dann wird er
mich stundenlang durch den Wald jagen, und schließlich werde auch ich
aufgefressen werden.
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